I. Berlin

1. Die Gründung Berlins

Wo heute die Petrikirche steht, da ragte einst auf einem Sandhügel ein wendischer Tempel auf, der dem dreiköpfigen Gotte Triglav geweiht war. Rings um das Heiligtum standen auf der von den beiden Spreearmen gebildeten Insel ein paar armselige Fischerhütten. Das ist der Anfang unserer Stadt gewesen. Wie nun neben dem alten Kölln Alt-Berlin (jenseits des Mühlendammes) gegründet wurde, das erzählt uns die Sage:

Albrecht der Bär, der erste Markgraf, hatte sich auf der Jagd im Sumpflande der Spree verirrt. Er war von seinen jagdgenossen abgekommen und sah sich schon der Notwendigkeit gegenüber, im Walde zu übernachten, als er nach der Spree hinüber ein Licht flackern sah. Er folgte dem Scheine und kam bald an einen im Wasser errichteten Pfahlbau, den man nur über einen schmalen Steg erreichen konnte. Er pochte ans Hürdentor, und ein Knecht ließ ihn ein. Der führte ihn in einen von Kienspänen erhellten Raum, wo der Besitzer der Ansiedlung auf einem Bärenfell saß. Dieser grüßte ihn nach wendischer Sitte und fragte, was sein Begehr sei. Albrecht antwortete, daß er von seinen Gefährten abgekommen sei und um ein Nachtlager bitte; er gab sich aber nicht als Fürst des Landes zu erkennen. Der Wende antwortete: "Du bist zwar ein Christ, doch weiß Rudolf von Stralow, auch diesen gegenüber Gastfreundschaft zu üben. Hier hast du einige Fische; dort auf dem Fell findest du einen Platz zur Ruhe!" Albrecht, der die Gebräuche der Wenden kannte, forderte aber Salz und Brot, um es mit dem Wenden gemeinschaftlich zu essen; denn nur dadurch sicherte er sein Leben. Rudolf von Stralow gab beides ungern; aber er gab es doch - und so konnte sich Albrecht beruhigt niederlegen.

Doch kam er nicht zur Ruhe, es war viel Leben und Bewegung im Hause. Knechte kamen und gingen, bis endlich einer Rudolf von Stralow meldete: "Es ist alles bereit!" Da stand dieser auf und rüstete sich zum Ausgang. Sofort war aber auch Albrecht auf den Beinen und fragte: "Wohin willst du?" Der Wende wollte es ihm nicht sagen, bis ihn der Markgraf darauf aufmerksam machte: "Ich bin dein Gastfreund." Da bequemte sich Rudolf dazu, ihm zu berichten, daß er zu einem Triglavfest wolle. Albrecht forderte: "So nimm mich mit!" Der Wende konnte es ihm als seinem Gastfreund nicht abschlagen, doch hüllte er ihn zuvor in einen Wendenpelz.

So bestiegen sie den Kahn, der am Wasserausgang ihrer harrte. Rasch ging die Fahrt spreeabwärts, und unterwegs gesellten sich ihnen viele Kähne zu, Dort, wo die Spree sich teilte, stiegen sie aus, um zum Triglavtempel auf sandiger Höhe emporzusteigen. Dumpfes Gemurmel schlug ihnen am Eingang entgegen: der Tempel war voll von Wenden.

Albrecht sah sich um. Im Hintergrunde gewahrte er einen großen Vorhang, hinter dem ein seltsames Gestöhn hervortönte. Da schritt die weißgekleidete Priesterschar herein und begann die Anrufung des dreiköpfigen Gottes. Immer wilder und lauter wurde ihr Schreien. Als ihr wildes Rufen den Höhepunkt erreicht hatte, wurde der Vorhang aufgerissen, und Albrecht sah, wie sie aus Weidengeflecht ein scheußliches Abbild ihres Gottes errichtet hatten. Das ganze Innere Triglavs aber war angefüllt mit gefangenen Christen, die nun als Opfer dargebracht werden sollten. Der Oberpriester schritt auf den darunter aufgeschichteten Holzstoß zu und entzündete ihn. Schon wollte Albrecht sein Schwert zücken, um seine Glaubensgenossen zu befreien. Doch Rudolf von Stralow zog seinen Gastfreund schnell in die finstere Nacht hinaus, um ihn vor einer übereilten Tat und damit vor dem Tode zu schützen.

Schweigend ging die Fahrt zum Pfahlbau zurück. Als sie aber dort angelangt waren, drangen harte Worte aus Albrechts Mund: "Ein Bärlyn (Bärlein) will ich in den Sumpf da setzen; das soll die Wenden zusammentatzen, daß kein Christ mehr zu brennen braucht!" Erstaunt sah der Wende seinen Gast an: "Du sprichst stolze Worte voll Herrengeist! Wer bist du?" "Kennst du mich nicht? Ich bin Albrecht, den sie den Bären nennen - mein Bärlyn soll im Wendenlande herrschen und seine Tatzen weit auf Sumpf und Sand pranken! - Doch Stralow soll besonderen Schutz genießen, weil es mich beherbergt hat - nur der erste Fischzug gehöre dem Fürsten!"

So - erzählt die Sage - entstand neben dem wendischen Kölln das deutsche Bärlyn (Berlin) - und lange haben die beiden Städte nebeneinander bestanden, bis sie vereinigt wurden. Stralau aber feierte seit jener Zeit ständig seinen Fischzug, bis auf den heutigen Tag.

2. Der fliegende Chorschüler

Stiegen da einst drei Chorschüler der Marienkirche an einem Markttage in den Turm hinauf, um aus den Krähenbauten dort oben die Eier zu holen.

Aber die Nester waren schwer zugänglich und nur von außen zu erreichen. Darum legten die Schüler ein festes Brett aus einem Schallloch hinaus. Zwei hielten von innen. Der dritte kroch behutsam hinaus und suchte, waghalsig zwischen Himmel und Erde hängend, die Mauerluken nach Eiern ab. Der Leichtsinn lohnte sich. Bald hatte er alle Taschen gefüllt. Die beiden Hasenfüße im Turm aber begehrten nun auch ihr Teil. Da der Kletterer sie jedoch verhöhnte und ihnen empfahl, allein zu suchen, drohten sie, ihn in die Tiefe zu stürzen. Er lachte sie aus. Im nächsten Augenblick aber war das Brett losgelassen, und mit einem gellenden Schrei löste sich der Schüler von der Spitze des Turmes.

Da begann ein angstvolles Rennen und Kreischen auf dem Markte. Aber ein Wunder geschah. In dem festen, weiten Chormantel des Jungen verfing sich der Wind, blähte die Kleider zu einem Fallschirm auf und hemmte den tödlichen Sturz. Sanft und ohne Schaden landete der Knabe mitten zwischen den Marktbuden.

Er hat nie mehr nach Kräheneiern gesucht.

3. Der Baumeister von St. Marien

Die Marienkirche sollte das schönste Bauwerk Berlins werden. So wünschte es der Rat der Stadt. Er übertrug die Aufgabe einem klugen Baumeister, dem aber jedes Mittel recht war. Um sein Ziel zu erreichen, schloß dieser einen Bund mit dem Teufel und verschrieb ihm seine Seeele. Der Teufel hielt auch sein Versprechen und baute das Gotteshaus so prächtig, daß es das schönste in der Stadt wurde.

Als der Bau fertig war, stieg der Baumeister auf den Turm, um das Werk zu überschauen. In seiner Freude über die glückliche Vollendung kam ihm ein Lobpreis Gottes über die Lippen, und er sprach ein Dankgebet. Der Teufel war ihm jedoch gefolgt, um ihn durch die Lüfte zu entführen. Als er nun aber vernahm, wie der Baumeister den Namen Gottes aussprach, verlor er seine Macht. Es gelang ihm nur noch, sein Opfer vom Turm zu stoßen; doch geschah dem Manne kein Leid. Ein Windstoß faßte seinen weiten Mantel und blähte ihn auf, so daß der Baumeister langsam herniederschwebte.

4. Das Steinkreuz an der Marienkirche

Es war vor 600 Jahren. Da läutete es vom Turm der Marienkirche; - denn ein gar frommer Mann, der Propst Nikolaus von Bernau, wollte den Berlinern eine Predigt halten. In langen, schleppenden Kleidern, mit schönem Halsgeschmeide kamen die Frauen, und neben ihnen schritten in ihren hohen Hüten und ihren stolzen, weißen Halskrausen die Männer, und bei manchen sah man eine dicke, goldene Ratsherrnkette am Halse. Da gab es etwas zu schauen für die Buben und Mädel und für die Hökerweiber, die hier mit Kohl und Rüben Markt hielten und ihre Buden und Zelte bis an die Kirchmauer hin aufbauten.

Kaum sind Glocke und Orgel verstummt, da entsteht ein Gedränge an der Kirchtür. Man stürzt heraus! Man drängt! Die nächststehenden Körbe werden umgerissen, daß die Rüben auf den Boden kollern. Mit Fluchen und Schimpfen schleppt man einen Mann daher. Sein schwarzes Gewand schleift am Boden! Da reißt ihm einer das Barett vom Kopfe! Kaum erkennt man in ihm noch den würdigen Propst. Da stürzt er hin, gestoßen, geschlagen! Und wie sie schreien! "Er hat uns Berliner beschimpft! Schurken' hat er gesagt! Das soll er büßen! Wir halten zu Markgraf Waldemar! Solch hohen Kirchenzins sollen wir zahlen! Auf den Scheiterhaufen mit ihm!" Nun ergreifen ihn auch die Markthändler. Und die Henkersknechte sind auch da! Wie schnell man nur das Holz zusammenbrachte! Da steht schon ein mächtiger Stoß. Schon qualmt er! Es brennt! "Herein mit ihm in die Flammen! Mag er jammern!" Bald schlägt die Feuerlohe über ihm zusammen, zu spät kommt man zur Besinnung. Zum letzten Male hat für viele Jahre die Glocke geklungen. Der Küster zieht nicht mehr an ihrem Seile; denn es darf kein Gottesdienst gehalten, kein Kindlein getauft, kein Toter in geweihter Erde bestattet werden.

An der Kirchentür aber steht seit jener Zeit ein steinernes Sühnekreuz.

5. Feldmarschall Sparr und der Brand der Marienkirche

Am Neuen Mark, gegenüber der Marienkirche, wohnte der alte Sparr, der Feldmarschall des Großen Kurfürsten. Er galt nicht nur als tüchtiger Feldherr, sondern soll sich auch auf allerhand Teufelskünste verstanden haben. Wenn er auf sein Gut Prenden bei Biesenthal fahren wollte, befahl er seinem Kutscher: "Spann den Wagen an!" Dann setzte er sich hinein und schnalzte mit der Zunge. Die Rosse zogen an, der Wagen stieg empor und sauste mit Windeseile durch die Lüfte. Im Handumdrehen war man am Ziel.

Eines Tages, als der Alte sich gerade in Berlin aufhielt, zog ein schweres Gewitter herauf. Feurige Blitze zuckten hernieder, und ein Strahl traf den Turm der Marienkirche. Bald loderten helle Flammen aus den Schallöchern, und die Berliner eilten herbei, um den Brand zu löschen. Mit ihren Wassereimern kämpften sie jedoch vergeblich gegen das Feuer. Schon drohte der Brand, auf den Dachstuhl überzugreifen. Da erbot sich der tolle Sparr, den Brand zu löschen. Er ließ Kanonen auffahren und befahl seinen Soldaten: "Schießt den brennenden Turm herunter!" Das gelang ihnen auch, und das Feuer kam zum Stehen.

Als der Große Kurfürst von dieser Tat erfuhr, war er sehr ungehalten. Er sagte: "Hat Sparr den Turm heruntergeholt, so soll er ihn auf seine Kosten wiederaufbauen!" Das wäre ihm teuer zu stehen gekommen, hätte er sich dabei nicht wieder seiner Zauberkünste bedient.

6. Die Löwen an der Parochialkirche

Vor dem letzten Weltkrieg gab es ein paar Straßen im alten Berlin, in denen die Leute alle gern lange wohnten und alt und grau wurden. Das war die Gegend um die Parochialkirche in der Klosterstraße. Da öffneten sie des Abends ihr kleines Fenster, schauten über ihre blühenden Blumentöpfe hin und lauschten auf das Glockenspiel der Kirche. Wie schön klang es über die Dächer! Ein altes Mütterlein erzählte mir dort die Geschichte des Glockenspiels:

"Jetzt steht unsere Kirche schon über 200 Jahre, und ein geschickter Meister setzte damals die kunstvolle Spieluhr ein. Jedesmal um die volle Stunde spielten die Glocken ein frommes Lied, und dann brüllten die vier Löwen an den Ecken des Turmes zwei-, drei-, viermal oder öfter, daß die Berliner wußten, was die Glocke geschlagen hatte. Zur Mittagszeit und um die Geisterstunde brüllten die Löwen zwölfmal. Die Ratsherren, die dort drüben in der Halle des Rathauses in der Spandauer Straße saßen, waren sehr zufrieden und gaben dem klugen Meister viele blanke Taler. Nun wollte dieser noch eine solche Uhr bauen und an eine andere Stadt verkaufen. Das darfst du nicht!' schrien sie ihn an. Wir werden dich daran hindern.' Da wurde der Henker geholt, der mußte dem Meister mit einem spitzen Stahl die Augen ausstechen.

Nun lief der arme, blinde Mann herum und ging zum Küster der Parochialkirche und sprach: Laß mich noch einmal auf den Turm, ich will nur noch ein einziges Mal meine Glocken spielen.' Er tastete sich die vielen Stufen hinauf und spielte. Die Leute lauschten, wie schön die Glocken klangen; mancher sang mit, und die Ratsherren lachten sich eins ins Fäustchen. Es sangen die großen Glocken, es jubelten die kleinen, es spielte der Meister, es brüllten die Löwen!

ParochialkirchePlötzlich war alles still. - Und als die Uhr die nächste volle Stunde spielte, blieben die Löwen stumm. Der Meister hatte an ihrem Werk an einer Schraube gedreht.

Zwar ließen die Ratsherren viele Uhrmacher und Künstler kommen; aber keiner fand die Stelle, wo der Fehler steckte. Darum spielen wohl die Glocken noch jetzt ihr Lied, aber die Löwen sind stumm geblieben bis auf den heutigen Tag."

Das Glockenspiel der Parochialkirche wurde mit dem oberen Teil des Turmes im letzten Kriege zerstört.

7. Das Licht auf dem Wetterhahn

Dort, wo die Brüderstraße auf den Schloßplatz trifft, stand vor Zeiten die erste Domkirche. Auf dem Wetterhahn ihres massigen Turmes erschien zur Geisterstunde oft ein schwaches Licht, dessen Ursprung sich niemand erklären konnte.

Da beschloß ein Dachdeckerlehrling, dem Wunder auf den Grund zu gehen. Er ließ sich vor dem Abendläuten im Dom einschließen und kletterte bei einbrechender Dunkelheit im Turmgebälk empor, zur letzten Luke hinaus, ließ die Beine in die schöne Sommernacht baumeln und wartete, was da kommen sollte.

Gegen Mitternacht huschte eine Fledermaus heran, zischte ihn an und flog dann auf die Turmspitze. Hier wickelte sie ein kleines Männchen aus ihren Flügeln und zog davon. Das Männchen setzte sich zurecht, stopfte sich eine Pfeife, wurde unruhig und begann alsbald laut zu klagen. "Hallo, Kleiner!" rief da der Junge von seiner Luke hinauf, "warum heulst du, als ob es morgen den ganzen Tag regnen wollte?" - "Meine Tochter hat den Zunder verloren", klagte der Kleine. "Nun habe ich kein Feuer." - "Da will ich wohl helfen", sagte der Junge und gab Feuerstein und Schwamm hinauf. Sie konnten sich beide gerade noch erreichen. Nun glimmte das Pfeiflein des Männleins tröstlich durch die Nacht. Der Junge wollte mit ihm reden, aber es murrte ihn an: "Du darfst mich nicht stören, wenn ich rauche." Da die Pfeife jedoch bis zum Morgengrauen nicht ausging, wurde es für diese Nacht mit einem Gespräch noch nichts.

Als die Fledermaus wiederkam, befahl ihr das Männchen, dem Jungen eine Gabe zu bringen. Sie flog noch einmal fort und kehrte mit einem goldenen Ringe zurück; den ließ sie dem Jungen in die Mütze fallen, wickelte das Väterchen in ihre Flügel und huschte davon. Behutsam kletterte der Lehrbube nun auch hinab; denn es war bald an der Zeit, daß der Dom geöffnet wurde.

Am nächsten Tag kam der Junge wieder und erhielt abermals einen Ring. Zum Gespräch kam es auch diesmal nicht; denn die Pfeife des Männleins ging nimmer aus.

Am dritten Abend wurde dem Buben die Wolkenreiterei langsam langweilig, und er dachte bei sich, wie lustig es sein müßte, dem Zunder einmal etwas Pulver beizumischen. Ob der Kleine dann wohl reden würde? Das Männlein aber verstand seine schlimmen Gedanken von ferne und beschloß, ihn zu strafen. Die Fledermaus legte ihm also diesmal nur einen eisernen Nagel in die Mütze. Darüber wurde der Junge unwillig und rief: "Was soll mir solch ein Katzendreck?"

In demselben Augenblick wurde das Männlein blutrot vor Zorn, und die Fledermaus kreischte schrillend auf. Da stürzte der Junge rückwärts in den Turm hinein, schlug mit dem Kopf gegen die Glocken, polterte durch das Gebälk und blieb unten im Turmraum liegen. Als der Mesner wegen des seltsamen Glockengetöns in den Turm eilte, fand er zu seinem Entsetzen den zerschmetterten Knaben.

Von dem Tage an hat niemand mehr das Licht auf dem Wetterhahn gesehen.

8. Der Stock als Verräter

Im Turm des alten Berliner Rathauses in der Spandauer Straße befand sich früher im ersten Stock eine Tür, von der aus eine Treppe hinab zur Königstraße führte. Lange Zeit war hier der Haupteingang zum Rathaus. Als man es dann vergrößern mußte, nahm man die Holztreppe weg, vermauerte die Tür und schuf neue Eingänge von der Straße her. An die vermauerte Tür knüpft sich folgende sagenhafte Geschichte:

Vor langen Jahren hatte sich ein Bürger der Stadt von einem andern 50 Goldstücke geliehen. Als er sie zurückgeben sollte, behauptete er dreist: "Ich habe diese Schuld schon längst bezahlt!" Nun kam die Sache vor den Rat der Stadt, und beide Männer erschienen vor dem Gericht. Hier erklärte der Schuldner wieder: "Ich habe das Geld bereits vor langer Zeit zurückgegeben." Diese Aussage mußte er aber feierlich beschwören. Bevor er die Hand zum Schwur erhob, reichte er wie zufällig dem Gläubiger Stock und Hut und bat ihn, beides während der Eidesleistung zu halten. Dann schwur er frech, er habe dem Manne das Geld in die Hand gegeben. Er hatte nämlich vorher zu Hause die 50 Goldstücke in listiger Weise in den hohlen Stock hineingetan und ihn wieder zugemacht.

Beide Männer stiegen nun die Treppe hinunter, und unterwegs verhöhnte der falsche Mann den unglücklichen Gläubiger. Als er ihn gar einen Lügner schalt, übermannte den Betrogenen der Zorn, und beide wurden handgemein. Dabei zersprang der Stock, und siehe da: 50 Goldstücke rollten klingend die Treppe hinab! So kam die schändliche Tat ans Tageslicht. Schreckensbleich stand der Bösewicht zum andern Male vor den Richtern und mußte nun seinen Meineid eingestehen. Sein übermut war ihm vergangen, und demütig bat er um

Gnade. Er wurde nicht nur verurteilt, das Geld zurückzuerstatten, sondern mußte auch zeitlebens eine seidene Schnur um den Hals tragen. Das sollte ihn täglich daran erinnern, daß er eigentlich den Strick verdient hätte. Alljährlich aber kam der Scharfrichter einmal, um sich zu überzeugen, ob er auch die Schnur noch trüge. Am meisten schmerzte es den ehrlosen Betrüger, daß er dem Scharfrichter jedesmal dafür 50 Gulden zu zahlen hatte.

9. Der Schusterjunge mit der Bierkanne

Was aus einem Schusterjungen alles werden kann, zeigt eine sagenhafte Geschichte, die sich in Berlin zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges zugetragen haben soll.

Da hatte einst ein Schuhmacher einen neuen Lehrling angenommen, der aus Bernau stammte. Als nun eines Tages Gevattersleute zu Besuch kamen, gab die gestrenge Frau Meisterin dem Jungen eine zinnerne Kanne und sagte, er solle Bernauer Bier holen; denn das war damals weit und breit berühmt. Sie bedachte aber nicht, daß der Bursche erst wenige Tage hier war und in Berlin noch nicht Bescheid wußte. Dem Jungen kam nicht in den Sinn, daß es Bernauer Bier auch in Berlin im Ratskeller in der Spandauer Straße gäbe. Aber die Meisterin, die kannte er schon ganz genau, und so getraute er sich denn nicht, weiter zu fragen. Er nahm stillschweigend die Kanne, wanderte zum Tor hinaus und langte endlich nach vielen Stunden in seiner lieben Vaterstadt an. Die Mutter machte zwar große Augen, als sie ihren Jungen mit der Kanne kommen sah; aber ihr Erstaunen wuchs, als sie hörte, was er wolle. Schließlich machte sie's aber, wie es andere Mütter in diesem Falle auch gemacht hätten. Erst schalt sie über seine Dummheit; dann bedauerte sie den armen Jungen, und endlich brachte sie herbei, was Küche und Keller hergeben wollten.

Am anderen Morgen wurde die Kanne mit ganz echtem Bernauer Bier gefüllt, und die Mutter wickelte noch ein Stück Speck, etwas Wurst und andere schöne Dinge ein, die wohl geeignet waren, den Zorn der Meisterin etwas zu beschwichtigen. Munter wanderte nun der Junge von dannen; aber je mehr er sich Berlin näherte, desto unheimlicher wurde ihm, wenn er der Frau Meisterin gedachte, und desto kleiner kam ihm das Stück Speck vor. Plötzlich stand sein Entschluß fest: er vergrub die Kanne am Wege unter einem Steinhaufen und lief davon, in die weite Welt.

Jahre waren seitdem vergangen, und unser Junge war ein Mann geworden, sogar ein Kriegsmann, der es schließlich bis zum Rittmeister gebracht hatte. Als er nun einst nach Berlin kam, gedachte er seines alten Lehrmeisters, und da er selbst die Frau Meisterin nicht mehr sonderlich füchtete, hielt er sein Roß vor dem Hause des Schuhmachers an. Anfangs wollte man ihm nicht recht glauben, daß er der Vermißte sei; aber der Bericht über die Kanne machte die Frau Meisterin stutzig. Der Rittmeister bestand darauf, den Steinhaufen zu untersuchen, unter dem er einst die Kanne vergraben hatte, und schließlich kamen die Schuhmachersleute und viele Nachbarn mit. Wohlweislich hatte sich natürlich der Rittmeister am Tage zuvor vergewissert, daß die Steine noch dalagen. Als er sie aber jetzt vorsichtig wegräumte, freute er sich selbst, daß die Kanne unversehrt zum Vorschein kam. Ja, sogar das Bier war noch darin, und als der Rittmeister den Deckel hob, zeigte es sich, daß es sich nicht nur gut erhalten hatte, sondern noch duftender und schmackhafter geworden war. So erhielt denn die Frau Meisterin ihr Eigentum zurück, und es ist kein Scheltwort über ihre Lippen gekommen, obwohl ihr die schöne Wurst und der fette Speck entgangen waren.

10. Die drei Wunder-Linden

Das Volk drängte zur Richtstätte heran. Ein Dieb sollte gehängt werden. Die Gerichtsboten hatten Mühe, auf dem Platze Übersicht und Ordnung zu halten.

Da tat einer im dichtesten Gewühle einen lauten Schrei. Ein Edler vom kurfürstlichen Hofe war es, der geschrien hatte. Nun lag er sterbend in seinem Blute, vom Mordstahl meuchlings durchbohrt. Ein Tumult erhob sich; die Tat wollte Recht. Da brach der Junker Halkan aus der Menge hervor und kniete beim Toten nieder. Das Volk aber griff ihn mit rohen Fäusten. Der Halkan galt als Todfeind des Ermordeten. Was brauchte man da weiter Zeugnis!

Verwirrt ließ es der Junker geschehen, daß man ihn stieß und zerrte und von dannen schleppte. Er war sich keiner Schuld bewußt. Man ließ ihm zwei Tage Zeit zur Reue im kältesten Keller. Er konnte nur leugnen.

Aber die Umstände waren gegen ihn; der Volksmund sprach ihn schuldig, und der Richter brach den Stab über ihn. Er wurde ins Gefängnis zurückgebracht, und ein Mönch trat ein, ihm den letzten Gang zu erleichtern.

Am gleichen Tage aber meldete sich der Bruder des Verurteilten beim hohen Gericht und bezichtigte sich selber der Tat, und am Abend forderte der dritte Halkan seine Strafe und blieb fest dabei, nur er hätte den Mord begangen.

So waren es plötzlich drei Täter geworden, und der Richter sah wohl, daß die Brüder in ihrer Liebe den armen Schelm im Gefängnis zu erretten versuchten.

Wie das Gerücht davon nun auch dorthin kam, da bekannte der Gefangene plötzlich laut, daß allein sein Haupt zu Recht fallen müßte, obwohl er bis dahin standhaft geleugnet hatte.

Darum trug der Richter die Sache dem Kurfürsten vor. Der sprach: "Ein Gottesurteil soll suchen, wo Recht und Unrecht ist. Sie mögen alle drei im kommenden Frühjahr eine Linde pflanzen, die Krone in den Boden setzen, die Wurzeln zum Himmel strebend. Wessen Baum verdorrt, den hat Gott gerichtet!"

Und so geschah es. Das war ein Drängen auf dem Heiligen-Geist-Friedhof, als die treuen Brüder die Erde aufwarfen und die jungen Linden pflanzten, die Krone zu unterst gegen allen Gebrauch.

Dann gingen sie still ins Gefängnis zurück und harrten auf Gottes Gerechtigkeit.

Nach Wochen aber flog eine seltsame Kunde durch die Stadt. Neugierige hatten jeden Tag den Weg auf den Kirchhof nicht gescheut. Nun brachten sie wundernd die Nachricht ins Volk, daß alle drei Linden Knospen angesetzt hätten und im Wurzelwerk grünten.

Das Gericht trat zusammen und sprach die Brüder frei, und sie fielen einander in die Arme und küßten sich.

Die Bäume wuchsen zu gewaltiger Höhe heran und beschatteten einen Raum von neunzig Schritt Länge und zwanzig Schritt Breite. Als sie nach langen Jahren zu morschen begannen, wurden sie mit Ketten gebunden und später durch ein Gerüst gestützt. Darunter wurden ein Predigtstuhl und Kirchenbänke aufgestellt. Noch lange waren die drei mächtigen Linden ein Wahrzeichen Berlins.

Die Wappenschilder der drei Brüder Halkan wurden noch lange in der großen Halle des Märkischen Museums aufbewahrt.

11. Der Neidkopf

Neidkopfrüher lebte in der Heiligen-Geist-Straße ein armer, aber recht fleißiger Goldschmidt, der von früh bis spät in der Werkstatt bei der Arbeit saß. Einst trat spät abends der König bei ihm ein und fragte: "Warum arbeitet Er jetzt bei der Lampe? Am Tage kann Er doch weit besser sehen!" - "Herr König!" antwortete ängstlich der Meister, "ich bin arm! Gold und Silber aber sind teuer! Erst heute wieder habe ich einen Kunden wegschicken müssen, weil ich die Auslagen nicht bezahlen kann, um das Armband zu schmieden und den Stein einzufassen! Ich muß Tag und Nacht arbeiten, um Geld zu verdienen."

Der König sah, wie geschickt der Mann war. Er bestellte ein paar Löffel und Messer und Gabeln und Schalen und versprach, das nötige Silber am nächsten Morgen zu schicken.

Nach einiger Zeit erschien der König wieder, um zu sehen, wie weit die Arbeit wäre. Zufällig blickte er hinaus. Da sah er am Fenster des gegenüberliegenden Hauses eine Frau, die abscheuliche Grimassen schnitt und die Zunge weit herausstreckte. "Was will das Weib? Wer ist es?" fragte er den erschrockenen Meister. "Herr König! Drüben wohnt ein reicher Goldschmied. Seine Frau ist neidisch, weil Ihr mir Eure Kundschaft zugewendet habt!"

Den König ärgerte der Brotneid des Reichen. Er ließ das kleine, baufällige Häuschen des armen Goldschmiedes abreißen und an derselben Stelle ein stattliches Haus erbauen. In der Mitte aber wurde ein weiblicher Kopf mit Schlangenhaaren und greulich verzerrtem Gesicht angebracht, dessen Mund die Zunge nach dem gegenüberliegenden Hause ausstreckt, damit die Frau so ein Neidgesicht immer vor Augen habe.

Darum heißt das Bild noch heute der "Neidkopf", und früher wurde auch das ganze Haus in der Heiligen-Geist-Straße Nr. 38 so genannt.

12. Die Rippe am Molkenmarkt

Molkenmarkt 12-13 in 1905

Am Hause Molkenmarkt 12-13 hingen früher zwei gewaltige Knochen, die Rippe und das Schulterblatt eines Riesen, der vor Zeiten von den Berlinern erschlagen wurde.

Hausten da einst in den Müggelbergen zwei gewaltige Riesen, die manchmal zu den Menschen in die Stadt kamen, um einzukaufen. Einer der Riesen liebte ein Mädchen. Das war die Braut eines Fischers, der am Molkenmarkt wohnte. Da das Mädchen dem ungeschlachten Gesellen nicht freiwillig folgen wollte, beschloß er, es zu rauben. Das bekam ihm aber übel. Das Mädchen erhob ein lautes Geschrei, so daß der Fischer mit vielen Leuten herbeieilte. Sie überwältigten den Räuber und erschlugen ihn.

Molkenmarkt 12-13 in 2023

Sieben Tage ließ man den toten Riesen liegen, damit ihn jeder sehen könne; endlich mußte man ihn aber doch begraben. Da nun der Leib für einen Kirchhof zu groß war, machte man sieben Stücke daraus und begrub das eine hier und das andere dort. Nur die beiden Knochen behielt man zurück und hängte sie zur Erinnerung auf. Darum hieß das Haus seitdem "die Rippe".

Ganz schlaue Leute behaupten allerdings, die Knochen stammen nicht von einem Riesen, sondern von einem Walfisch oder gar von einem Mammut. Das können wir heute aber nicht mehr nachprüfen.

13. Das Lotterielos an der Stubentür

Als in der Wallstraße noch das Haus Nr. 25 stand, erblickte man über der Tür das Bildnis eines Mannes, der auf seinem Rücken eine schwere Tür fortträgt. Nach dem Manne aus der Bibel wurde dieses Bild "der Simson" genannt. Der Mann, der einmal die Tür getragen hat, war aber gar nicht so stark; er hat sich redlich geschleppt - und tat's doch von Herzen gern. Das kam aber so:

Als in Berlin das Lotteriespiel aufkam, lebte in der Wallstraße ein armer Schuhmacher. Obwohl er sich redlich mühte, konnte er seine Familie nur kümmerlich mit seiner Hände Arbeit ernähren. Das Unglück verfolgte den armen Mann so, daß das Wort: Er hat Pech! bei ihm in doppelter Hinsicht zutraf. Die Zeiten waren schlecht; die Leute hatten kein Geld, und so mußten die Kinder oft mit trockenem Brot vorliebnehmen.

Als nun das Lotteriespiel aufkam, da wußte die Frau Meisterin ihren Mann zu überreden, daß er sich auch ein Los kaufte. Erst wollte er nicht recht heran, da er ja doch ein Pechvogel wäre - aber die Frau redete so lange, bis er hinging und ein Los erstand. Die letzten Heller suchte er zusammen, und als er nach Hause kam, warf er das Los mißmutig auf den Schustertisch, wobei er sagte: "Da hast du den Plunder!"

Gleich darauf wurde er aber zu einem Kunden gerufen. Die Meisterin hatte in der Küche zu tun - und so machten sich die Kinder am Arbeitstisch zu schaffen. Da fanden sie auch das Los - und weil ihnen das bunte Papier gefiel, spielten sie damit. Ja, eins schleppte sogar den Kleistertopf herbei und klebte das Los fein säuberlich an die Tür, wo sie schon andere bunte Bilder befestigt hatten.

Der Schuhmacher hatte das Los schon längst vergessen, als er eines Tages am Rathaus vorüberging, wo sich die Leute drängten. Er fragte, was es da gäbe. Man erzählte ihm, daß heute die Ziehung der Lotterie wäre. Da fiel ihm sein Los ein, und neugierig drängte er sich näher. Nun wurde auf einmal eine Nummer aufgerufen, die ihm bekannt vorkam - und gleich darauf hieß es, diese Nummer habe das große Los gewonnen.

Da hättet ihr den mageren Schuster einmal rennen sehen sollen! Mit Windeseile war er zu Hause und kramte alles auf dem Tische und der Fensterbank um, in der Hoffnung, das Los zu finden. Aber - nichts! Polternd rief er nach seiner Frau und herrschte sie an, wo das Los wäre. Sie aber sagte, daß er es doch wohl gut verwahrt hätte.

"Hat sich was mit gut verwahrt!" schnaubte der Meister.

Die Kinder hatten sich vor dem Zorn des Vaters alle in eine Ecke geflüchtet, der Sünder, der das Los angeklebt hatte, am weitesten nach hinten. Nur das jüngste, so ein süßer Daumenlutscher, stand mitten in der Stube. Und als der Vater immer wieder fragte, wo das Los wäre, nahm er den Daumen aus dem Munde und zeigte nach der Tür: "Da!"

Jetzt schlug die Wut des Schuhmachers in Freude um; aber ganz zufrieden war er doch noch nicht. Er verglich zuerst einmal die Nummer mit der, die er im Kopfe hatte - und wirklich, es stimmte. Nun erzählte er auch den Seinen, welch großes Glück ihnen widerfahren wäre. Aber, um den Gewinn zu holen, mußte er doch das Los vorzeigen - wie sollte er es aber losbringen? Abweichen? Da wäre es zerrissen. Und mit dem Messer konnte man es auch nicht ablösen. Er sann hin und her, bis ihm ein glücklicher Gedanke einfiel. Mit einem Ruck faßte er die Tür und hob sie aus den Angeln: "Ich gehe mit der ganzen Tür zum Ziehungssaal!"

Gesagt- getan! Es ist zwar dem dürren Schuhmacher das Schleppen arg schwer geworden, und die Leute auf dem Wege lachten ihn aus - aber er wußte, was er trug. Unter Stöhnen und Keuchen kam er im Rathaussaale an, wo man sich über das sonderbare Los nicht wenig wunderte. Aber gestaunt haben die Leute doch, und ein wenig neidisch waren sie auch, als sie merkten, daß es das große Los war.

Der Schuhmacher ließ sich von seinem Gewinne ein hübsches Haus bauen - und zur Erinnerung an sein Glück das Bild über der Tür des Hauses anbringen.

Leute, die besonders klug sein wollen, behaupten allerdings anders: An der Stelle des Hauses soll einst das Köpenicker Tor gestanden haben - und als man dieses abriß, habe man zur Erinnerung den Simson angebracht, der das Tor fortträgt.

14. Die heilige Gertrud auf der Gertraudenbrücke

Wo heute die Gertraudenbrücke über die Spree führt, endete einst das alte Kölln. Dort stand das Teltower Tor, und vor dem Tor lag nur noch ein Hospital oder Spittel. Das war der heiligen Gertrud geweiht und beherbergte Fremde und Reisende, die weither kamen. War einmal solch ein armer Wanderer unterwegs krank geworden, pflegten ihn die Schwestern hier wieder gesund.

Als unsere Heimatstadt sich später nach allen Seiten ausdehnte, wurde das Spittel abgerissen und vor dem Tor der Spittelmarkt angelegt. In unserer Zeit wurde auch die alte Brücke beseitigt und durch eine neue ersetzt.

Auf dieser Gertraudenbrücke steht das Denkmal der heiligen Gertrud. Zu ihr empor schaut ein "fahrender Schüler", dem sie einen erquickenden Trunk reicht. Lächelnd blickt die Heilige zu ihm hernieder und übersieht absichtlich die gestohlene Gans, die der Bursche draußen an einen Pfosten gebunden hat. In der anderen Hand trägt sie einen Spinnrocken; denn sie segnete auch den Flachsbau und die fleißigen Spinnerinnen. Sankt Gertrud war aber nicht nur die Schutzheilige der Wanderer und fahrenden Leute, sondern bewahrte auch die Felder und Fluren vor dem Mäusefraß. Darum beteten die Landleute zu ihr und brachten ihr am 17. März, ihrem Namenstage, die ersten Frühlingsblumen dar.

Die heilige Gertrud

Wir sehen deshalb auch am Sockel des Standbildes, wie Lilien aufsprießen und Mäuse Reißaus nehmen. Das Standbild der heiligen Gertrud wurde während des letzten Krieges abgenommen und bis heute nicht wieder aufgestellt.

15. Die Jungfernbrücke

Als die Reformierten ihres Glaubens wegen aus Frankreich vertrieben wurden, kamen viele von ihnen nach Berlin. An der Friedrichsgracht wurden ihnen Wohnungen angewiesen. Unter den Flüchtlingen befand sich auch ein Vater mit neun Töchtern.

Die konnten fein sticken und nähen; aber spitzer als die Nadeln waren ihre Zungen. Sie klatschten gern und wußten jedem etwas Böses anzuflicken. Die neun Jungfrauen wuschen auch sauber und geschickt, fingen sie jedoch an zu reden, so mochte niemand das Gewäsch mit anhören. Darum kriegten sie auch keinen Mann, und wie die Leute erzählen, sind alle neun "sitzengeblieben".

Das muß wohl wahr sein; denn die Brücke in der Nähe ihres Hauses heißt noch heute die Jungfernbrücke. Wer damals eine Neuigkeit hören wollte, dem riet man wohl: "Geh' zu den Jungfern an der Brücke!"

16. Der Scharfrichter als Heilkünstler

Die Scharfrichter haben allezeit den ärzten ins Handwerk gepfuscht; aber zur Kurfürstenzeit hat einmal der Scharfrichter von Berlin eine ganz absonderliche Kur angewandt.

Da lagen einst am Grünen Donnerstag drei Bettler vor der Klosterkirche der Schwarzen Brüder gegenüber dem Schloß, taten gar jämmerlich, als hätten sie die Krämpfe, und lahm stellten sie sich auch. Meister Hans, der Scharfrichter, hatte aber die Leute genau angesehen und bemerkt, daß der Schaum vor ihrem Munde nur Seifenschaum war.

Da fragte er den Kurfürsten, ob er die drei wohl gesund machen dürfe. Als der's nun erlaubte, zog er eine Knotenpeitsche unter dem Wams hervor und schlug so unbarmherzig auf die armen Krüppel los, daß eine Staubwolke aus ihren Kitteln aufstieg. Da haben dann die Krüppel schnell ihre Messer gezogen, aber nicht, um sich zu wehren, sondern um die Stricke zu zerschneiden, mit denen sie sich die Beine unter dem Leib zusammengebunden hatten. Dann sind sie aufgesprungen und schnell über die Lange Brücke bis ans Georgentor gelaufen. Meister Hans hat ihnen bis dahin das Geleit gegeben, und seine Knotenpeitsche hat die Musik dazu gepfiffen.

Der Kurfürst war ein ernster Mann; aber diesmal hat er doch gelacht und den Meister Hans gelobt, der sich seitdem seines besonderen Wohlwollens zu erfreuen hatte.

17. Die Goldsemmel

Drei Knechte aus dem Teltow sollten einmal Korn nach Berlin bringen. Die Heide war sandig, und es war unerträglich schwül, so daß die Pferde die schweren Wagen nur mit großer Mühe vorwärts bringen konnten.

Als sie am Spätnachmittag schon nahe der Stadt waren, stieg hinter ihnen ein schweres Wetter auf. Das kam schnell heran und verfinsterte bald den ganzen Himmel. Da stiegen die beiden Knechte, die vorn fuhren, vom Wagen herunter und trieben die Pferde an, daß sie schärfer zögen. Der letzte Knecht rührte sich aber nicht von seinem Wagen und blieb hinter den anderen zurück.

Es dauerte nicht lange, so brach das Unwetter los. Das stürmte und wirbelte auf einmal in den Lüften, als ob die wilde Jagd mit Hussa und Horrido dahinbrauste. Als das Rufen und Hörnerblasen schon weit weg war, hörte der Bursche über sich eine klagende Stimme. Die rief immerfort: "Meine Schütze ist entzwei! Meine Schütze ist entzwei!"

"So gib sie doch einmal her!" sagte er gutmütig, als das Klagen kein Ende nehmen wollte. "So groß wird der Schaden doch nicht sein, daß man sie nicht wieder ganz kriegen könnte!"

Kaum hatte er das gesagt, saß hinten auf seinem Wagen eine gespenstische Gestalt. Die hielt ihm eine Schaufel hin, wie sie die Bäcker gebrauchen, wenn sie das Brot in den Backofen schieben. Dem vorwitzigen Knecht lief ein Schauer eiskalt über den Rücken hinunter; aber er faßte sich doch und besah den Schaden.

"Da müssen wir einen Holzpflock durchtreiben", sagte er, nachdem er die Schaufel von allen Seiten beguckt hatte. Dann zog er sein Messer aus der Tasche und schnitt ein Stück Holz von der Wagenrunge ab. Er schnitzte es zurecht, bohrte an den Bruchenden der Schaufel ein paar Löcher und trieb den Pflock hindurch. Da war die Schütze wieder heil, und der Knecht gab sie dem gespenstischen Mitfahrer zurück.

Der faßte grinsend in die Tasche. "Da hast du auch etwas für deine Mühe!" Mit diesen Worten langte er dem Knecht eine Semmel hin und war verschwunden. Der schob sie verächtlich in die Tasche, fuhr dann flott hinter seinen Gefährten her, die er noch vor der Stadt einholte. Seine Kameraden hänselten ihn, weil er so lange zurückgeblieben war. Doch der Knecht schwieg dazu und erzählte auch nichts von seinem Abenteuer.

In der Stadt kehrten sie alle in demselben Gasthofe ein, wo sie noch viele andere Fuhrleute trafen. Als sie ihre Pferde besorgt hatten, saßen sie alle in der Gaststube beisammen, packten ihre Stullen aus und tranken Bernauer Bier dazu.

Da trat eine arme, alte Frau zu ihnen hinein. Die ging von Tisch zu Tisch und bat um die Brotreste, welche die Knechte übrigließen. Dem Knecht, der unterwegs das Abenteuer mit der wilden Jagd gehabt hatte, fiel jetzt die Semmel wieder ein, die er noch immer in der Tasche hatte. Er zog sie heraus und schenkte sie der Alten.

Nach ein paar Wochen mußte der Knecht wieder nach Berlin und blieb in demselben Gasthaus über Nacht. Da stellte sich auch die alte Frau wieder ein; denn sie kam jeden Abend. Wie sie aber den Knecht erblickte, drängte sie sich gleich an ihn heran und fragte ihn, ob er nicht wieder solch eine schöne Semmel habe wie das vorige Mal. Der einfältige Knecht merkte noch immer nichts; aber den andern war aufgefallen, daß die Alte gar nicht mehr von dem Knecht weichen wollte. Darum fragten sie ihn, was es denn eigentlich mit der Semmel für ein Bewenden habe. Nun erzählte er seine Geschichte.

"Da hast du nicht recht getan!" sprachen die anderen erregt auf ihn ein. "Es war gewiß etwas darin." Jetzt drangen sie in die alte Frau, sie sollte gestehen, was sie in der Semmel gefunden hätte. Die wollte erst nicht mit der Sprache heraus. Als die Knechte sie aber laut bedrohten, gestand sie zitternd, daß bei jedem Brocken, den sie von der Semmel abgebissen habe, ein Goldstück herausgefallen sei. Vergebens forderte nun der Knecht seine Semmel zurück; doch war die längst verzehrt, und kein Schelten brachte sie wieder her.

Da nahm er sich fest vor: wenn er noch einmal eine Goldsemmel bekäme, sie hübsch für sich zu behalten. Ob es ihm aber noch einmal geglückt ist, davon weiß niemand zu sagen.

II. Rings um die Altstädte

18. Der Graf von Hake

Wo heute der Hackesche Markt liegt, war früher ein sumpfiges Gelände, in dem der Graf von Hake oft und ergiebig jagte. In dem dichten Holz hielten sich zahlreiche Wildschweine, so daß die Küche des Grafen um leckere Braten selten verlegen war.

Einst aber nahm die Jagd fast ein böses Ende.

Die Hunde hatten einen starken Keiler gestellt. Der Graf eilte hinzu und wollte den Eber auf den Speer auflaufen lassen.

Da sprang die Klinge am Griffe ab, und wütend prallte das gewaltige Tier zwischen die Beine des riesengroßen Grafen. Er brach in die Knie, kam auf den Rücken des wilden Schweines zu sitzen und erfaßte in seinem ersten Schrecken den Ringelschwanz des Keilers, und heia ging die Jagd davon: das Gesicht des Ebers nach vorn, das Gesicht des Grafen nach hinten, ein Schwänzchen senkrecht hochgestellt und zwei lange, lange Grafenbeine weit abgespreizt.

Am Spandauer Tor fiel er endlich von dem seltsamen Reittier ab, das entsetzt weiterlief.

Der König hat weidlich darüber gelacht, als er davon erfuhr, und dem Grafen aufgetragen, den Sumpf zu entwässern und dort Häuser bauen zu lassen.

19. Die fünf weißen Ratten im Schloß Monbijou

In der Johannisnacht geht es im Schloß Monbijou um. Fünf weiße Ratten huschen dann über die Treppen und durch die Zimmer. Ein Feuerschein geht vor ihnen her, umhüllt sie und folgt ihnen nach. Ein Wehklagen ertönt, wo sie weilen. Ruhelos geht es die ganze Nacht hinaus und hinein. Die Feuerlöcher der öfen öffnen sich, wenn die seltsamen Tiere kommen. Fünfzehnmal müssen sie in jedes Feuerloch hinein und ebenso oft wieder hinaus. Ruhelos geht es während der ganzen Johannisnacht.

Durch die Gänge wankt dann eine junge Frau und weint. Sobald ihr jemand entgegentritt, zerrint sie wie Luft. Um Mitternacht singt sie zuweilen. Ihr Lied ist schaurig und tränenvoll.

"Wole, wole, Kinderlein mein, Starr ist der Stein, War Fleisch und Bein, So jung gestorben, Durch mich verdorben. Wole, wole, Kinderlein tanzt!"

Wer mag die Verdammten erlösen?

Fünf kleine Mädchen in weißen Kleidern waren die Ratten einst, und die weinende Frau war die Gärtnerin im Schloß, die Mutter der Kinder. In der Johannisnacht war sie zum Tanz geschlichen mit ihrem Liebsten, heimlich, während die Kinder schliefen. In der Nacht aber kam ein Gewitter auf und erschreckte die Kleinen. Während die Blitze die Gänge erleuchteten, tasteten sich die Mädchen im Schloß umher und suchten die Mutter. Zuletzt trieb sie die Angst in die Feuerlöcher der Kamine.

Da kehrte die Mutter heim. Als sie die Kinder nicht im Bettchen antraf, begann sie scheltend durch das Schloß zu gehen. Endlich fand sie die Mädchen und rief höhnend: "Wie Ratten sitzt ihr da im Feuerloch!" Aber ein eisiger Schrecken durchfuhr die Frau. Fünf Ratten huschten plötzlich vor ihr her, weiß wie die Hemdchen der Mädchen, eilten durch die Gänge treppauf und treppab. Die Mutter aber jammerte hinter ihnen her. Hinaus in den Garten sprangen die Ratten und verschwanden in einem Busch.

Da stand die Gärtnersfrau nun allein davor. Ein greller Blitzstrahl zuckte auf, und sie sank in sich zusammen und ward zum Stein. Die weißen Ratten aber kamen und wühlten sich darunter in die Tiefe.

20. Neunundneunzig Schafsköpfe und einer

Zur Zeit des Alten Fritz führte der Alexanderplatz den Namen "Am Stelzenkrug". Dort hauste ein ansehnlicher und wohlgelittener Bürger, der durch gute Taten sich des Königs Gunst erworben hatte. Dafür ließ ihm Friedrich ein prächtiges Haus erbauen; denn er liebte es, seine Hauptstadt zu verschönern, wo er nur konnte. Das Gebäude aber trug auf dem Dache prächtige Engelsköpfe und allerhand Verzierungen.

Ein böser Nachbar jedoch beneidete den Bürger wegen des königlichen Geschenks. Er stiftete flugs aus seinem Reichtum große Summen für die Armen und erreichte damit wirklich, was er erhoffte. Der König wurde auf ihn aufmerksam und ließ ihm zur Anerkennung das stattliche Haus "Zum Hirschen" errichten.

Der neidische Mann indessen kannte keine Dankbarkeit. Immer wieder hatte er einen Wunsch, bis es Friedrich endlich zu arg wurde. Er suchte den Quengelhans eines Tages selbst auf und fragte ihn ärgerlich, warum ihm denn das große Haus nicht gefiele. Da erwiderte der Gefragte übellaunig: "Dat Haus da drüben ist doch schöner, hat Putten uffs Dach, und meins is ganz olle." Der König sagte nichts und ging gekränkt von dannen.

Bald darauf gab er den Bauleuten Befehl, am Hause "Zum Hirschen" neunundneunzig Schafsköpfe als Verzierung anzubringen. Nun geriet der unverschämte Bürger in große Bestürzung und lief zum König. Friedrich ließ sich aber nicht sprechen und schrieb ihm zurück: "Wenn Ihm die neunundneunzig Schafsköpfe nicht genügen, so stecke Er nur seinen Kopf dazu zum Fenster hinaus. Dann sind es hundert.«

21. Belohnte Frömmigkeit

Als Berlin noch eine kleine Stadt war und die frühere Königstraße Georgenstraße hieß, lag vor dem Georgentor ein Hospital, das dem heiligen Georg geweiht war. An seiner Stelle wurde später die Georgenkirche mit ihrem hochragenden Turm errichtet. Zu ihrem Bau war viel Geld erforderlich; aber die Berliner gaben reiche Spenden dazu. Auch das Glasergewerk beteiligte sich mit einer kostbaren Gabe: es stiftete nämlich die schönen bleiverglasten Kirchenfenster und ersparte dadurch der Gemeinde 800 Taler.

Als die Kirche eingeweiht wurde, dankte der Pfarrer allen fröhlichen Gebern und wünschte, der Himmel möchte ihnen ihre Wohltaten vergelten. Bald danach ging ein schweres Unwetter über Berlin nieder, und ein starker Hagelschlag zertrümmerte Tausende von Fensterscheiben. Da hatten alle Glaser viel zu tun. Die gescheiten Berliner aber erinnerten sich an die Worte, die der Pfarrer kurz zuvor gesprochen hatte, und meinten: "Gott hat die frommen Glaser für ihre Spende rasch und reichlich belohnt!"

22. Der alte Borsig

Vor dem Oranienburger Tor stand einst die Borsigsche Fabrik, bis sie später nach Tegel verlegt wurde. Der Begründer dieses Werkes, der alte Borsig, soll auf Schusters Rappen als armer Handwerksbursche mit sechs Dreiern in der Tasche durch das Oranienburger Tor in Berlin eingezogen sein. Er fing klein an und hörte groß auf. Weil er ein kluger und geschickter Handwerker, aber auch ein sparsamer Hausvater war, brachte er es vorwärts, und aus den sechs Dreiern wurden nach und nach Millionen. Zuletzt besaß der Alte nicht nur die große Fabrik in Berlin, sondern hatte auch im Havellande das Gut Groß-Behnitz erworben.

Das Oranienburger Tor

Obwohl er reich geworden war, blieb er bescheiden. Er vergaß nie, wie armselig er einmal nach Berlin gekommen war. Das Oranienburger Tor hatte es ihm angetan, er liebte es. Nun sollte es abgerissen werden; denn die Stadt war gewachsen, und vor dem Tor waren viele neue Straßen entstanden. Da kaufte es der alte Borsig und ließ es nach Groß-Behnitz schaffen. Dort ließ er es vor seinem Schlosse zur Erinnerung an seinen kleinen Anfang wieder aufbauen. Seinen Nachkommen sollte es ein Mahnmal sein: sie sollten sich vor Stolz und Hochmut hüten, fleißig schaffen und stets für ihre Werkleute sorgen.

23. Der Kreuzberg und die Sintflut

Zu der Zeit, als man um Berlin noch Wein baute, hieß der Kreuzberg der "runde Weinberg". Er lag weit weg im Süden vor der kleinen Stadt. Beinahe wäre er einmal fast so berühmt geworden wie der biblische Ararat in der Sintflutgeschichte. Und das kam so:

Als Martin Luthers neue Lehre sich bei uns ausbreitete, wollten kluge Leute in den Sternen eine schreckliche Kunde gelesen haben: Am 15. Juli des Jahres 1525 sollte eine gewaltige Sintflut hereinbrechen und Berlin vernichten. "Die Sterne lügen nicht!" So sagten sie großsprecherisch. Das glaubte auch der Kurfürst, und mit bangem Gemüt und abergläubischer Furcht sah er dem Tage des Gerichts entgegen.

Der Kreuzberg und die Sintflut

Klar und heiter brach der gefürchtete Tag an. Am Himmel zeigte sich kein Wölkchen, und eine ungewöhnliche Gluthitze brütete über der Residenzstadt. Zur Mittagszeit tauchte ein dunkler Wolkensaum am Horizont auf und stieg, sich schwarz türmend, höher und höher. Da packte den Fürsten die Angst, und in größter Eile ließ er die Hofkutschen anschirren. Die Tore des Schlosses öffneten sich, und die Tierspänner mit der kurfürstlichen Familie, begleitet von einem großen Gefolge, donnerten über die Brücken südwärts zur Stadt hinaus. Auf dem Gipfel des "runden Weinberges" wurde haltgemacht, und kurfürstliche Reiter sperrten alle Wege ab, die zur Stadt führten.

Ängstlich warteten alle auf den Eintritt des schrecklichen Ereignisses. Doch Stunde auf Stunde verrann, ohne daß sich die Schleusen des Himmels öffneten, und am Abend mußte sich der Kurfürst beschämt zur Rückkehr entschließen.

24. Der Teufelstein im Humboldthain

Als der Humboldthain noch in seiner alten Schönheit prangte, befand sich dort auch eine Quelle. Um sie herum lagen viele Steine, der größte unter ihnen hieß der Teufelsstein.

Er hatte vor Zeiten in der Nähe des Dorfes Prenden bei Biesenthal gelegen. Die Leute dort erzählten, der Teufel hätte mit diesem Stein nach der Kirche ihres Dorfes geworfen, um sie zu vernichten. Glücklicherweise traf er aber nur die Wetterfahne; deshalb steht sie noch heute schief.

Als die Berliner den Humboldthain auf dem Gesundbrunnen anlegten, holten sie sich den Teufelsstein hierher und stellten ihn an der Quelle auf. Sie mußten sich dazu aber einen besonders starken Wagen bauen lassen; denn der Stein war gut 700 Zentner schwer.

25. Das "schmale Handtuch" und das kleine Haus an der Müllerstraße

Als es noch keinen Schillerpark gab [Anm.: also vor ~1909], war die Müllerstraße eine sandige Landstraße, auf der man wohl eine gute Stunde wandern mußte, ehe man zum Dorf und Schloß Tegel gelangte. Damals standen an der Müllerstraße nur wenige Häuschen. Unter ihnen waren zwei, von denen sich die Leute allerhand Geschichten erzählten.

Das eine hatte nur zwei Fenster Front, war aber zwei Stockwerke hoch, und darüber baute sich noch ein hohes Dach auf. Es sah aus wie ein graues Handtuch, das der letzte Ackerbürger vom Wedding draußen auf dem Felde hatte liegen lassen. Deshalb wurde es auch von den Leuten das "schmale Handtuch" genannt.

Das Schmale Handtuch; Müllerstraße 83 ca. 1891
Müllerstraße 83, Berlin-Wedding 1891; Foto: Georg Bartels

Als erst die Pferde- und später die Straßenbahn verkehrte, fuhren im Sommer an schönen Sonntagen viele Berliner nach Tegel, um dort im See zu baden. Kamen sie dann am "Handtuch" vorbei, fragte wohl einer den anderen: "Hast du auch alle Badesachen mitgenommen?" Dann fand mancher beim Nachsehen, daß er wohl die Badehose eingesteckt, aber das Handtuch vergessen hatte. Scherzend rief man solch einem Vergeßlichen dann zu: "Spring schnell ab und hole dir drüben das Handtuch!" Das gelang zwar keinem; wenn er aber das nächste Mal zum Baden nach Tegel fahren wollte, dachte er schon zu Hause an das "Handtuch" in der Müllerstraße und vergaß nicht, auch sein Badehandtuch einzustecken.

Dort, wo sich heute das stattliche Rathaus des Bezirks Wedding erhebt, stand vor Zeiten ein kleines graues Haus an der Müllerstraße.

Das war schon so alt, daß es sich tief in die Erde hineingestanden hatte. Große Leute konnten fast darüber hinwegsehen oder mit der Hand bequem bis auf das Dach hinaufreichen.

Nun wohnte einmal in dem Häuschen ein langer Kerl, der des Abends gern ausging. Seiner Frau gefiel das aber nicht; deshalb bekam er auch niemals den Hausschlüssel mit. Doch der Lange wußte sich Rat. Wenn er spät nach Hause kam, langte er mit dem Arm durch den Schornstein und nahm sich den Schlüssel vom Nagel am Türpfosten. Lag er dann am anderen Morgen schlafend im Bett, wunderte sich seine Frau, wie er hineingekommen war.

Das ist nun schon lange her, und die Müllerstraße ist zur Großstadtstraße geworden. Das "schmale Handtuch" und das kleine Haus sind längst verschwunden; aber in der Sage leben sie weiter.

26. Der Schweinekopf

Wo man in unserer Zeit bei Plötzensee den Westhafen gebaut hat, lag noch vor nicht zu langer Zeit ein altersgraues Häuschen, das den Namen "der Schweinekopf" führte. Da soll noch vor hundert Jahren über der Tür der Kopf eines Wildschweines zu sehen gewesen sein, und der letzte Wirt soll auch einen Mauerstein mit der Jahreszahl 1534 besessen haben. An der Wand aber hat ein Bild des Kurfürsten gehangen - und das ist leider beim Bau des Hafens mit dem ganzen "Schweinekopf" verschwunden. Doch die Sage lebt weiter:

Einst jagte der Kurfürst in dieser Gegend. Da rannte ihn ein wütender Eber nieder. Der Fürst wäre verloren gewesen, wenn nicht ein Köhler, der in der Nähe seinen Meiler hatte, den Hilferuf gehört hätte. Der eilte mit seiner großen eisernen Schürstange herbei und erschlug den Eber. Der Kurfürst aber war sehr froh und dankte dem Manne. Er erbaute ihm das kleine Haus und erlaubte ihm, dort einen Ausschank einzurichten. Zur Erinnerung an seine Tat nagelte der Köhler den Eberkopf als Wirtshausschild über der Tür fest, wie die Jäger es tun, die an ihrem Haus ein Hirschgeweih anbringen.

Genau ein Jahr später, nachdem ihn der Eber angefallen hatte, starb der Fürst. Der "Schweinekopf" hat ihn lange überdauert - jetzt ist er aber auch dahin.

27. Wie der Plötzensee entstand

Wo der Plötzensee heute seine Wasserfläche zeigt, soll vor Zeiten ein großes Dorf gestanden haben. Darin wohnten aber harte und geldgierige Leute, so daß einst eine große Wasserflut kam und das ganze Dorf verschlang.

All die Bewohner aber wurden Plötzen, die im See umherschwimmen müssen. Damit sie auch gar nicht zur Ruhe kommen, ist stets ein alter Hecht hinter ihnen her.

In der Johannisnacht aber kann man die Glocken der untergegangenen Kirche läuten hören. Das ist wie ein zartes Singen und Klingen - von dem aber wollen die Plötzen nichts wissen. Sie verkriechen sich in dem Schilf: ihre Sünde steht vor ihnen auf!

28. Die Kirchturmspitze im Lietzensee

Um den Lietzensee geistert und spukt es zu gewissen Zeiten. Das merkt zwar nicht jeder, der durch die schönen Anlagen geht, die man dort angepflanzt hat; aber Sonntagskinder sollen es öfter gefühlt haben.

Soll doch an der Stelle, wo heute der See liegt, vor alten Zeiten ein blühendes Dorf gestanden haben mit einer hübschen Kirche darin. Das Dorf aber ist versunken, und die Wasser des Lietzensees überspülen es. Niemand aber weiß, warum das Dorf untergegangen ist.

Nur begnadete Sonntagskinder können in mondhellen Sommernächten aus dem See die Spitze des Kirchturmes auftauchen sehen. Wer ganz feine Ohren hat, der hört auch zu manchen Zeiten aus der Tiefe das Klingen der Glocken und das Singen feiner Kinderstimmen.

29. Der Stein in der Lützower Kirche

Der Dreißigjährige Krieg war im Land, und Berlin wurde von den Schweden hart bedrängt. Der Kurfürst war in Ostpreußen und wußte nichts von der Not seiner Hauptstadt. Sein Statthalter aber hatte sich in die Festung Spandau zurückgezogen. Immer trauriger wurde es in der Stadt; denn Hungersnot und ansteckende Krankheiten nahmen täglich zu.

Da faßte sich eine junge Nichte des Kurfürsten Mut: sie wollte Hilfe aus Spandau herbeiholen und den Statthalter zur Tat drängen. Alle rieten ihr ab - aber Anna Katharina wagte den Gang.

Heimlich schlich sie sich allein aus der Stadt hinaus, an den schwedischen Posten vorbei, bis sie nach Lützow kam, wo sie den alten Fischer Lietzmann gut kannte. Der brachte sie mit seinem Kahn bei Nacht und Nebel nach Spandau, wo sie dem Statthalter die Not Berlins schilderte. Ihre mutige Tat und ihr freies Wort hatten Erfolg: Berlin sollte Hilfe erhalten.

Mit dieser Botschaft eilte Anna Katharina heim. Doch diesmal bemerkten die Schweden das Boot und verfolgten es. Lietzmann mußte sein Fahrzeug aufgeben. Unter einer dichten Baumgruppe konnte er landen; aber das Ufer war sumpfig. Da holte der alte Fischer von einem nahen Brennofen einen frisch gebrannten Ziegelstein. Den legte er dicht am Boote nieder, so daß die Prinzessin trockenen Fußes ans Land kam. Aber ihr zierliches Füßchen hatte sich in dem Stein abgezeichnet. Da nahm Lietzmann ihn als heiliges Andenken mit.

Als dann wieder Frieden im Lande herrschte und die Kirche auf dem Lützower Werder wiederaufgebaut wurde, da widmete Lietzmann seinen Stein der Kirche. Er wurde unterhalb der Kanzel zur Erinnerung an das mutige Mädchen eingemauert.

III. Der Kranz der Außenbezirke

30. Der Riß in der Mauer der Spandauer Nikolaikirche

In der inneren Mauer der ehrwürdigen Nikolaikirche soll sich ein Riß befinden, den man schon oft zu schließen versucht hat. Es ist aber bis auf den heutigen Tag niemals gelungen. Wie dieser Spalt entstanden ist, darüber erzählt die Sage folgendes:

In alten Zeiten, da noch alle demselben Glauben anhingen, war es Sitte, daß Kurrendeknaben die Kirche nach den Gottesdiensten zu reinigen hatten. Das waren ältere Schüler, die vor den Türen der Spandauer Bürger sangen, um sich durch milde Gaben etwas zum täglichen Brot hinzuzuverdienen. Einmal, als sie wieder das Gotteshaus säubern wollten, vergaßen die leichtsinnigen Knaben, daß sie sich an heiliger Stätte befanden. Einer von ihnen zog ein Kartenspiel hervor - des Teufels Gebetbuch. In einem Nebenraum der Kirche setzten sie sich nieder und begannen ihr frevelhaftes Spiel. Dabei ergriff die böse Lust sie so sehr, daß sie gar nicht bemerkten, wie ein Fremder von sonderbarem Aussehen hinzutrat und sie höhnisch betrachtete. Erst als er sie fragte: "Kann man da nicht ein bißchen mitspielen?" blickten sie auf, erkannten aber nicht den Bösen. Keck erwiderte einer: "Wenn du viel Geld im Beutel hast, dann komm nur her! Wir werden es dir schon abnehmen."

Grinsend setzte sich der Fremde nieder und begann mit teuflischer Kunst das Spiel. Er gewann Zug um Zug, so daß der Frechste, der ihn so übermütig aufgefordert hatte, nur noch einen blanken Heller übrig behielt. Da verschwur er sich und rief in sündhafter Weise: "Mag mich der Teufel holen, wenn ich auch das letzte Spiel verliere!" Der Fremde warf die Karten, gewann und strich den letzten Heller ein. Dann packte er den Verlierer am Kragen und stieg mit ihm in die Lüfte. Vor den Augen der entsetzten Schüler öffnete sich oben in der Mauer auf geheimnisvolle Weise ein Spalt, durch den der Teufel mit seinem Opfer entfuhr. Nie hat man wieder etwas von dem Knaben gesehen.

31. Der Sackpfeifer und der Wolf

Der Sackpfeifer und der Wolfor Zeiten gab es in den Wäldern um Spandau noch Wölfe. Um sie zu fangen, legte man Wolfsgruben an. Die waren oben eng und erweiterten sich nach unten, damit der hineingefallene Wolf nicht wieder hinausspringen konnte. Oben aber waren sie mit Brettern und darübergelegtem Moos zugedeckt.

Nun hatte einmal ein Sackpfeifer in Spandau zur Hochzeit aufgespielt und dabei dem guten Braten und dem eingeschenkten Bier und Branntwein reichlich zugesprochen. Es war schon ziemlich spät, als der lustige Musikant mit seinem Instrument auf dem Rücken durch den Wald heimging. Da er nicht ordentlich auf den Weg achtete, kam er von der Straße ab und fiel in eine Wolfsgrube. Er war höchst verwundert darüber, als er sie schon besetzt fand und ihm ein Wolf durch das Weisen der Zähne sein Mißfallen über den unerwünschten Besuch zu verstehen gab. Doch der frische Rausch gab dem verirrten Musikus Mut, so daß er seine Sackpfeife zur Hand nahm und dem Wolf einen lustigen Tanz aufspielte. Da wurde der Wolf ganz zahm und begleitete den Sackpfeifer mit seiner durchdringenden Stimme, bald in hohen Tönen und bald im tiefen Baß. Das seltsame Konzert scholl durch den weiten Wald, und so vernahm es auch ein Jäger, der sich schon zeitig auf den Pirschgang begeben hatte. Der eilte den merkwürdigen Tönen nach und befreite den tapferen Musikanten von seinem unheimlichen Begleiter.

32. Der Teufel in Spandau

Wenn die Spandauer und Pichelsdorfer Fischfrauen in früherer Zeit an den Markttagen mit ihren schmalen Fahrzeugen auf dem Wasser dahinruderten, riefen ihnen die Kinder vom Ufer zu: "Hule, hule; hule! Wat macht der Deibel in Spandau?" Darüber ärgerten sich die Frauen natürlich, und wenn sie konnten, machten sie die Spötter tüchtig naß. über den Ursprung dieser Spottrede erzählt die Sage folgendes:

Vor ungefähr 400 Jahren zeigten sich in Spandau viele Menschen, die vom Teufel besessen waren. Das hatten sie sich selbst zuzuschreiben. Es war nämlich dort Brauch geworden, daß viele am Ende ihrer Rede sagten: "Wenn's nicht wahr ist, dann soll mich der Teufel holen!" Und wenn sie einem anderen etwas übles wünschten, dann sagten sie: "Ihm soll der Teufel in den Leib fahren!"

Da sollen dann auf einmal eine große Menge Teufel nach Spandau gekommen sein. Die schrien: "Ihr habt uns gerufen - nun sind wir auch gekommen." Damit sind sie dann in all die Leute gefahren, die solche Flüche gebraucht haben. Der Kurfürst befahl, dagegen fleißig Betstunden abzuhalten. Es soll aber lange gedauert haben, bis die Spandauer durch Beten und Buße die bösen Geister endlich wieder losgeworden sind.

33. Der Aufhocker am Teufelssee

Gegenüber von Heiligensee zieht sich auf dem andern Ufer der Havel der Spandauer Stadtwald hin. In seinem Dickicht verborgen liegt nördlich vom Johannisstift der düstere Teufelssee, der heute ziemlich verlandet ist. Hier soll es früher nicht geheuer gewesen sein: allerhand böste Geister sollen an diesem Ort zur Mitternachtsstunde ihr Unwesen getrieben haben.

Einmal hatte sich ein Mann aus Spandau, der in Niederneuendorf gewesen war, verspätet. Die Geisterstunde war schon hereingebrochen, als er am Teufelssee vorbei kam. Er sah allerhand Irrlichter aufflackern. Plötzlich spürte er einen heftigen Ansprung von hinten und eine schwere Last auf seinem Rücken. Voller Angst lief er, so schnell ihn die Beine tragen konnten. Endlich schwand der furchtbare Druck, und schweißgebadet konnte er erleichtert aufatmen. Der gespenstische Aufhocker war abgesprungen und wieder zu seinem Schlupfwinkel am Teufelssee zurückgekehrt.

Weil noch manch anderer, der dort zur Mitternachtsstunde vorbeikam, dasselbe böse Erlebnis hatte, mieden die Leute den unheimlichen Ort oder beeilten sich, rechtzeitig zu Hause zu sein.

34. Schildhorn

Über die märkische Heide geht Rossegestampf und Menschengeschrei. Die große Wendenschlacht ist geschlagen; Albrecht der Bär hat den letzten Wendenfürsten besiegt. Und Jaczo ist nun auf der Flucht vor den Christen. Die Götter, die er vor dem Kampfe angerufen hat, haben ihn treulos verlassen. Jetzt bittet er sie, daß sie ihm wenigstens zu glücklicher Flucht vor den verfolgenden Christen helfen. Immer weiter stürmt sein treues Roß; aber immer näher kommt das hetzende Geschrei seiner Feinde.

Da auf einmal sieht er sich am Ufer der Havel. Statt Rettung haben ihm seine Wendengötter die sichere Gefangennahme gebracht. In dieser Stunde bricht sein Glaube an sie zusammen; jetzt will er von Triglav und den anderen Götzen nichts mehr wissen. Sie haben seine Treue nicht belohnt. Und da taucht vor ihm das Bild des Christengottes auf, wie es dessen Anhänger künden: das Bild versöhnender Liebe. Vielleicht, daß er ihm hilft? In seiner höchsten Not wendet er sich nun an ihn: "Hilfst du mir aus meiner Not, bringst du mich ans rettende Ufer, dann will ich dir dienen - so treu, wie ich den Wendengöttern gedient habe!"

Schon hört Jaczo das Geschrei der Verfolger ganz nahe, schon brüllt einer hinter ihm: "Jetzt haben wir ihn im Sack!" - da gibt Jaczo seinem Pferde die Sporen, und mit einem hohen Satze springt es hinein in den blauen Strom. Es war höchste Zeit; denn schon sind die Verfolger an der Stelle angelangt, wo Jaczo soeben den Christengott um Beistand angefleht hat. Jetzt sehen sie den Wendenfürsten die Havel durchschwimmen - und keiner wagt's, ihm zu folgen.

Schwer ringt das treue Tier mit der Strömung. Immer mehr muß Jaczo es anspornen. Aber auch immer mehr nähert sich das jenseitige Ufer. Jetzt sind sie ganz nahe heran - Jaczo greift nach dem hervorragenden Aste einer Kiefer, an dem er sich emporzieht - da versinkt das treue Roß in den Fluten. Es hat genug getan, es hat den Herrn gerettet.

Der aber kniet unter der Kiefer nieder und dankt dem Christengott für seine Rettung. Dann hängt er Schild und Horn an den Asten der Kiefer auf: sie, die er für die falschen Wendengötter geführt hat, will er für den Gott der Liebe nimmer tragen. Jaczo wird Christ.

Die Stelle aber, wo seine Verfolger ihn sicher zu haben glaubten, heißt noch heute" der Sack". Es ist die Landzunge, die sich von Pichelsdorf aus weit in die seenartig erweiterte Havel hineinstreckt und die man auch "Pichelswerder" nennt. Die Stelle aber, wo Jaczo gelandet sein soll, heißt seit langen Zeiten "das Schildhorn". Lange stand hier eine Sandsteinsäule mit einem daranhängenden wendischen Schild. Sie stellte einen Baumstamm dar, der auf seiner Spitze ein Kreuz trug.

35. Schloß Grunewald

Im Grunewald gibt es manche Stelle, wo es nicht recht geheuer sein soll. Vor allem aber spukt es im Grunewalder Schloß.

Waren da einmal zur Herbstzeit ein paar Fischer im Schloß. Die hatten bis spät am Abend gefischt und hatten sich, müde von des Tages Arbeit, in einem Zimmer des Seitengebäudes zum Schlafe niedegelegt. Sorgfältig hatten sie dieTüren, die in das Zimmer führten, zugemacht.

Als sie nun im tiefen Schlafe lagen, kam es laut und vernehmlich "trott, trott" die hölzerne Treppe hinauf. Die Stubentür flog auf, und sausend stürzte es durch die Stube. Die Tür der danebenliegenden Kammer öffnete sich ebenfalls, und heulend wie ein Sturmwind zog es in die Kammer hinein. Dann war's still im Zimmer. Da mit einmal fuhr es aus dem Schornstein und polterte den Ofen hinab. Wieder war dann alles still.

Die Männer waren gleich anfangs aufgewacht. Sie zitterten und bebten vor Entsetzen, und eiskalt fuhr es ihnen durch Mark und Bein. Keiner wagte aufzusehen, sondern alle zogen sich ihre Mäntel übers Gesicht, als es bei ihnen vorüberging. Als aber das Tosen und Poltern im Ofen vorbei war, fuhren sie auf, und im Nu - sie wußten selbst nicht wie - waren sie die Treppe hinunter und stürzten über den Hof in die Kutscherstube. Erst dort wagten sie aufzuatmen.

Ein anderes Mal geschah etwas ähnliches, als sie in der Kutscherstube schliefen. Da öffnete sich plötzlich die Pferdestalltür, und der Kutscher kam zitternd zu ihnen in die Stube. Hinter ihm raste es wie ein Wirbelwind, riß die Flurtür auf und fuhr durch den schmalen Flur nach dem Hof hinaus. Als sie an das Fenster eilten, sahen sie mit Schrecken, wie es im Mondschein auf dem Hofe und an den Wänden der Gemäuer wie die wilde Jagd herumtobte.

Manchmal soll auch der alte Kellermeister, der auf dem Bild am Eingang zum Schlosse abgebildet ist, des Nachts zur Geisterstunde die große Wendeltreppe des Schlosses herabkommen und laut mit den Schlüsseln klappern. Auch in der alten gewölbten Küche ist es zu manchen Zeiten nicht geheuer. Dann fangen sich die alten Bratspieße, die sonst ruhig an der Wand stehen, von selbst an zu drehen.

36. Der Grunewaldsee

Der Grunewaldseels einst ein Fischer sein Netz aus dem Grunewaldsee hochziehen wollte, saß es fest, und er bekam es nicht los. Da hörte er plötzlich ein leises Klingen, als wenn eine Glocke ertönte. In demselben Augenblick kam die Sonne hinter den Wolken hervor, und nun sah er deutlich, wie im Wasser die Spitze eines Kirchturms hervorragte, an der sein Netz hing. Er fuhr nun ganz dicht heran und machte es los. Da verschwand auch die Kirchturmspitze wieder.

Die Leute erzählen auch, daß früher eine Insel im See lag, auf der ein Dörflein stand. Es weiß aber niemand mehr, warum die Insel mit dem Dorf und Kirchlein versunken ist.

37. Das Holzmännchen von Schmargendorf

Einst lebte in Schmargendorf eine alte Kräutersammlerin, die graue Ursel genannt. Einige Tage vor der Hochzeit ihrer Enkelin ging sie zur Dämmerstunde in den Wald. Da bemerkte sie auf dem sandigen

Wege einen schwarzen Holzschlitten, der sich lautlos von allein vorwärts schob. Genau ein gleicher Schlitten kam ihm von der anderen Seite entgegen. Als die beide nahe nebeneinander waren, hielten sie einen Augenblick an, und eine Stimme fragte: "Ist es bald Zeit?" Aus dem zweiten Gefährt antwortete es darauf: "In drei Tagen ist es so weit." Dann rutschten die kleinen schwarzen Dinger weiter. Die graue Ursel schwieg still. Sie wußte, daß es Holzmännchen waren, die zur Arbeit fuhren. Und da in drei Tagen die Hochzeit ihres Enkelkindes stattfinden sollte, erhoffte sie ein großes Glück.

Am Polterabend trat wirklich ein ehrbares Holzgeistchen zu der Braut und sagte: "Frage den Pfarrer, ob er mich morgen leiden mag!" Der Pfarrer war ein verständiger Mann und erlaubte den Besuch des Kleinen im Hochzeitshause. Nur in die Kirche sollte er nicht mitkommen. EinTischchen und ein Stühlchen müsse man ihm im Zimmer aufstellen und ein wenig Puppengeschirr dazutun. Das sagte die Braut dem Holzmännchen wieder, und es dankte freundlich und versprach, rechtzeitig zu erscheinen.

Gegen Abend des nächstenTages entstand in der lauten Fröhlichkeit der Hochzeitsgäste plötzlich ein Schweigen. Der große Ofen des Festzimmers beheizte zwei nebeneinanderliegende Räume, so daß er in der Wand stand und über sich einen Spalt frei ließ. Da hindurch blickte das Holzmännchen, lüftete sein Käppchen und wünschte allen ein frohes Fest. Nun war der Jubel groß. Man holte den Gast an der Hand herbei, geleitete ihn zu seinem Tischchen und setzte ihm reichlich das Beste von allem vor. Er bedankte sich mit herzlicher Freude, rührte indessen nichts an.

Dann bat er die Braut um einen Tanz und tanzte zur Verwunderung der Leute zierlich und leicht. Zu allen Mädchen, die reinen Herzens waren, trat er heran und schwang sie einmal im Zimmer herum. Die losen Jungfrauen hingegen verschmähte er. Das bemerkten jedoch die Betroffenen nur selbst, so daß die Freude des Festes nicht gestört wurde.

Spät in der Nacht beschenkte das Holzmännchen die Spielleute reichlich. Dem Brautpaar aber legte es eine neue Säge und ein silbernes Forstbeil auf den Gabentisch. Der Bräutigam ist auch bald darauf Förster geworden und hatte zeitlebens ein gesichertes Auskommen.

Dann schritt das Männlein freundlich grüßend davon. Die Speisen waren währenddessen von dem Tischchen verschwunden. Man dachte, der Kleine hätte sie mitgenommen. Als man sie jedoch unter der Ofenbank entdeckte, war man betrübt, daß der Gast sie verschmäht hatte. Man wollte sie aber auch nicht umkommen lassen und rief deshalb Hund und Katze herbei. Die Tiere rührten nichts an, sondern gingen schnuppernd vorbei. Nun nahm die Braut alles auf ein Tellerchen und setzte es in den Mondschein auf die steinerne Hausschwelle vor die Tür hinaus, und im Augenblick waren Teller und Gläserchen leer.

Darüber war eitel Freude im Haus, und die Mädchen, mit denen das Holzmännchen getanzt hatte, haben alle in demselben Jahr noch geheiratet.

38. Kohlhasenbrück

Ungefähr da, wo der Teltowkanal in den Griebnitzsee mündet, liegt eine kleine Siedlung namens Kohlhasenbrück. Sie besteht aus einigen hübschen Landhäusern und einer Gastwirtschaft, die besonders im Sommer von den Berlinern gern besucht wird. Durch das liebliche Tal floß früher ein Bächlein, die Bäke. über die Bäke führte eine Brücke, die den Namen Kohlhasenbrücke trug. Die Bäke ist, als der Kanal fertig war, zugeschüttet worden, und die Brücke ist verschwunden. Woher hatte sie ihren Namen?

Vor ungefähr 400 Jahren lebte in Kölln an der Spree in seinem Hause in der Fischerstraße Nr. 27 ein Pferdehändler, der hieß Hans Kohlhase. Er hatte zwei schöne Pferde, einen Rappen und einen Rotschimmel. Mit diesen reiste er einst nach der Leipziger Messe, um sie zu verkaufen. In einem Dörfchen nahe bei Wittenberg hielt er an, um zu rasten. Hier waren aber einem Bauern während der Nacht zwei Pferde gestohlen worden. Die Leute meinten, das seien die Pferde, die Kohlhase bei sich hatte. Er mußte mit zu dem Amtsherrn, dem Junker von Zaschwitz. Hans Kohlhase versicherte, die Pferde vor langer Zeit gekauft zu haben. Der Junker aber wollte ihm nicht glauben und behielt die Pferde zurück.

Sehr betrübt und erzürnt wanderte Kohlhase zur Leipziger Messe und kehrte nach 10 Tagen zurück. Er hatte schlechte Geschäfte gemacht. Unterdessen hatte sich der Pferdediebstahl aufgeklärt. Der Amtsherr bedauerte ihn und sagte, er könne seine Pferde wieder mitnehmen. Aber wie sahen die aus! Sie waren während seiner Abwesenheit vor den Ackerwagen gespannt und vom Knechte roh behandelt worden. Nun waren sie zu häßlichen Kleppern abgemagert. Dazu sollte Kohlhase auch noch Futtergeld bezahlen. Da wurde er sehr zornig, ließ die Pferde bei dem Junker und ging nach Hause.

Das Gericht sollte entscheiden. Aber der Richter fürchtete sich vor dem Junker und seiner vornehmen Verwandschaft und wies den Kläger, der Entschädigung forderte, zurück. Das Geschäft Kohlhases litt natürlich dabei und ging mehr und mehr zurück. Er kam in bedrängte Lage und verlor fast sein ganzes Hab und Gut. Da wandte er sich an seinen Landesherrn, den Kurfürsten von Brandenburg. Der sollte ihm zu seinem Rechte verhelfen. Aber auch hier hatte er keinen Erfolg. Es fand zwar eine neue Gerichtsverhandlung statt; aber man konnte sich nicht einigen.

Da suchte Kohlhase selbst sein Recht. Aus dem friedlichen, gutmütigen Handelsmann wurde ein Aufrührer. Er sammelte eine Anzahl kühner Gesellen um sich und wurde bald der Schrecken des Landes. Dörfer wurden in Brand gesteckt, Reisende überfallen und beraubt. Eines Tages hörte Kohlhase davon, daß für den Kurfürsten ein großer Wagen mit Silber unterwegs sei. Diesen Wagen überfiel er und raubte das Silber. Unter der Brücke, die über die Bäke führte, soll er die Silberkuchen verborgen haben. Vergebens hatte Martin Luther Kohlhase zur Umkehr ermahnt. Seine Horden hatten sich längst von dem Gehorsam gegen den Hauptmann befreit und brandschatzten unter Kohlhases Namen weiter.

Das wurde dem Kurfürsten nun doch zuviel. Kohlhase wurde gesucht und verfolgt. Er wußte sich zwar noch eine Zeitlang seinen Verfolgern zu entziehen, endlich wurde er aber in Kölln gefunden. Er hatte sich auf dem Boden eines Hauses in einer Kiste versteckt. Er wurde gefangengenommen und erlitt mit seinen Genossen den Tod.

39. Die erste Wassermühle

Stand da einst ein schwarzgekleideter Wanderbursche vor einem Mann, der verzweifelnd die Hände rang. Er fragte ihn: "Warum bist du so traurig?" Da antwortete der Mann: "Habe du nur neun gesunde Jungen, die alle essen wollen, und zeige ihnen dann immer den leeren Brotkorb! Dann kannst du auch die Verzweiflung kriegen, besonders wenn du den ganzen Tag arbeitest und es doch zu nichts bringst!"

Der Schwarze beugte sich schnell zu dem Armen hinab und flüsterte ihm ins Ohr: "Versprich mir deine Seele, so will ich dir helfen!" Da merkte der Mann, mit wem er es zu tun hatte. Er schlug schnell ein Kreuz, und der Teufel mußte verschwinden.

Am anderen Tage versuchte der Mann wieder, einige seiner Handmühlen loszuwerden. Sie bestanden aus einem ausgehöhlten Mahlstein und einem kleinen runden Stein zum Reiben. Damit zerrieben die Leute damals die Getreidekörner zu Mehl. In der ganzen Umgegend hatte jedes Haus eine solche Mühle, und niemand brauchte eine zweite. Mutlos kam der Mann abends nach Hause, wo Frau und Kinder sehnsüchtig auf ihn warteten. Traurig sahen sie seine leeren Taschen - und als der Teufel abermals erschien, war der Mann schon gefügiger als vorher. Aber noch sträubte er sich, bis er dann auf Drängen seiner Frau in der dritten Nacht seine Seele dem Teufel verschrieb.

Da führte ihn der Schwarze ein wenig von seinem Wohnsitz KleinGlienicke, das zwischen der Havel und dem Griebnitzsee liegt, hinweg. Am See angekommen, schwenkte er seine Kappe. Da schäumte der Griebnitzsee gewaltig über. Sein Wasser brach sich zur Havel Bahn, so daß ein Bach entstand, der vom Griebnitzsee zur Havel flöß. Nun zeigte der Teufel dem Manne die verborgene Kunst, wie man durch das stürzende Wasser ein Mühlrad treiben könne. Der Mann verstand des Teufels Plan, und bald klapperte das Mahlwerk der ersten Wassermühle in unserer Heimat.

Nun war Brot in Hülle und Fülle da; denn von weither kamen die Leute, um ihr Korn mahlen zu lassen. Die neun Jungen wurden wackere Mühlknappen und übernahmen die Mühle, als ihr Vater eines Abends im Mahlwerk verunglückt war: der Teufel hatte ihn geholt.

Doch bald kam die Pest ins Land - alle neun Söhne erlagen der tückischen Krankheit, so daß die Mutter ganz allein stand. Sie mußte die Mühle verkaufen, und aus Gram über ihr Unglück starb sie bald danach.

Der neue Besitzer hatte aber wenig Freude an der Mühle; denn in ihr soll sich der alte Müller immer gezeigt haben. So wurde die Mühle in der ganzen Gegend verrufen, und kein Mensch ließ in ihr mahlen. Da zog der neue Müller in die Fremde, und die Mühle sank allmählich in Trümmer. Des Teufels Werk hatte keinen Segen gebracht.

40. Die verräterische Tabakpfeife

Es war in der Zeit, als Berlin am Potsdamer Tor endete und eine sandige Landstraße in das Land hinaus zu den Dörfern Schöneberg und Steglitz führte. Damals lagen zu beiden Seiten des Potsdamer Tores zwei Häuschen für die Wache. Ein Unteroffizier kommandierte die Wachsoldaten, und vor dem Tor ging ein Posten auf und ab, der auf alle Fuhrwerke und Fußgänger acht gab. Einer der Unteroffiziere war mit dem Schulzen Willmann in Schöneberg gut bekannt. Des Sonntags wanderte er oft nach Schöneberg hinaus und besuchte den Schulzen. Willmann rauchte gern Tabak und hatte sich allmählich eine ganze Anzahl von Tabakpfeifen zugelegt. Viele hatte er auch geschenkt bekommen. In seiner guten Stube hatte er sie alle zu einer schönen Sammlung vereinigt. Da standen in den Gestellen große und kleine. Manche hatten kunstvoll geschnitzte Holzköpfe, andere wieder Porzellanköpfe, die mit Bildern und Inschriften geziert waren. Die kostbarsten aber waren die mit den Meerschaumköpfen. Der Unteroffizier liebte diese Pfeifen; er kannte jede einzelne ganz genau, besser noch als der Besitzer. Er hielt sie dem Schulzen so gut in Ordnung, wie er es daheim mit seinen Soldaten tat.

Nun trieb zu dieser Zeit eine Brandstifterbande in den Dörfern, die im Südwesten weit von der Stadt lagen, ihr Unwesen. Sie ängstigte die Bauern durch Drohbriefe, die mit "Peter Horst und Brandgenossen" unterschrieben waren. Erst stahlen die Raubgesellen in dem Hause, und dann zündeten sie es an, um ihre Spuren zu verwischen. Am meisten suchten sie Schöneberg heim. EinesTages erschollen wieder Feuerhorn und Feuergeschrei auf der Schöneberger Dorf aue. Das Haus des Schulzen Willmann stand in Flammen und brannte völlig nieder. Dabei ging auch die wertvolle Pfeif ensammlung zugrunde. Der Schulze und sein getreuer Unteroffizier waren untröstlich über diesen Verlust.

Einige Monate danach hatte unser Unteroffizier wieder einmal die Wache am Potsdamer Tor. Er trat aus seinem Häuschen hinaus, sah nach seinem Posten und schaute dann in die Leipziger Straße hinein. Da beobachtete er,wie ein junger Bursche die Straße hinabgeschlendert kam. Der führte ein Mädel am Arm, und in der anderen Hand hielt er eine brennende Tabakpfeife. Der Unteroffizier stutzte; die Pfeife hatte einen Meerschaumkopf und kam ihm bekannt vor. "Schock Schwerenot!" sagte er leise vor sich hin, "das ist doch eine von Willmanns Pfeifen, die hast du doch oft genug in der Hand gehabt." Schnell winkte er zwei seiner Soldaten herbei und ließ den Mann mit der Pfeife festnehmen. Er wurde dem Gericht zugeführt, und der Richter sagte ihm die Brandstiftung auf den Kopf zu. Der Bursche legte sich aufs Lügen; aber es half ihm nichts. Die gestohlene Tabakpfeife verriet ihn und brachte seine Schandtat ans Licht. Die Brandstifter empfingen ihre gerechte Strafe, und die Einwohner von Steglitz und Schöneberg hatten wieder Ruhe.

41. Die "Blanke Hölle"

In den schönen Grünanlagen des Alboinplatzes in Tempelhof liegt heute ein Teich, der im Volksmunde "Blanke Hölle" heißt. In alten Zeiten soll es ein großer See gewesen sein. Als man aber den Teltowkanal anlegte, zog der das meiste Wasser an sich, so daß nur ein kleiner Rest übrig blieb. Von der "Blanken Hölle" erzählt die Sage:

Als die ersten Christen in unsere Heimat kamen, lag um den See ein dichter Wald. Von Tempelhof war noch nichts zu sehen; denn die Tempelritter siedelten sich erst später an. Am See, mitten im Walde, lag ein heidnisches Heiligtum der Göttin Hel. Darin waltete ein alter Priester seines Amtes am Opferstein.

Als nun die ersten Mönche mit dem Kreuz in unsere Heimat kamen, verirrte sich einer derselben in diese Einöde und kam an das heidnische Heiligtum. Der alte Heidenpriester nahm ihn freundlich auf, und da er schon recht gebrechlich war, bot er ihm an, an seiner Stelle den Dienst am Opferstein der Göttin Hel zu übernehmen. Doch der Mönch sprach: "Ich diene dem allmächtigen Christengott, dem Schöpfer Himmels und der Erden. Wie kann ich deiner machtlosen Göttin opfern?"

Doch lebten die beiden friedlich miteinander, bis der greise Heidenpriester eines Tages starb. Was sollte der Mönch nun allein in dieser Wildnis anfangen? Ihm schickte die Göttin Hel nicht ihre schwarzen Stiere aus dem Wasser des Sees herauf, daß sie das Land umpflügten, aus dem dann unglaublich schnell das Brotkorn sproßte. Und was der Alte an Nahrung hinterlassen hatte, das neigte sich dem Ende zu. Der Mönch nahm nicht die zweifelhafte Hilfe der Heidengöttin Hel in Anspruch, sondern blieb seinem Christenglauben treu und rief Gott um einen gnädigen Tod an.

Da schäumte das sonst so klare Wasser schwarz auf, stieg über die Ufer, und die reißenden Wogen verschlangen Mönch, Heiligtum und Opferstein. Seitdem ist nichts mehr von der Stätte zu sehen. Hel zürnt den Menschen, und die Leute sagen, daß sie sich noch jedes Jahr ein Opfer in die Tiefe ziehe - schon mancher ist in dem anscheinend harmlosen Gewässer ertrunken.

Die heidnische Göttin ist längst vergessen, und die Leute wußten nichts mit dem Namen "Helpfuhl" anzufangen. So nannten sie das Gewässer die "Blanke Hölle".

42. Der Schatz auf dem Tempelhofer Feld

In Tempelhof lebte vor langen Zeiten eine ganz arme Frau, deren Mann gestorben war und die sich kümmerlich mit ihrem Jungen ernährte. Einmal ging sie mit ihrem Kinde nach Berlin. Schwere Sorgen drückten ihr Herz, so daß sie nicht weiter auf den Weg achtete. Da jauchzte der Knabe auf einmal laut auf. Er stand vor einem großen Loch, daraus es golden und silbern blitzte. Als die Mutter schnell herbeieilte, sah sie im Grunde des Loches viel Gold und Edelsteine. Wie war ihr Herz da froh! Jetzt hatte ihre große Not endlich ein Ende.

Rasch kniete sie nieder und raffte recht viel von den Schätzen in ihre Schürze. Dann eilte sie schnell davon, ohne an ihr Kind zu denken. Sie war schon ein ganzes Stück gelaufen, als sie sich endlich umdrehte. Da gewahrte sie zu ihrem Entsetzen, wie der Knabe in dem Loch versank, das sich über ihm schloß. Sie eilte zurück, um den Knaben zu retten. Mit den Händen schaufelte sie die Erde weg, doch der Boden war hart geworden. Sie kratzte sich die Hände blutig; aber die dunkle Erde gab das Kind nicht zurück.

Als es dunkelte, eilte sie heim. Am nächsten Morgen war sie sehr früh wieder an der geheimnisvollen Stelle und suchte vergeblich nach ihrem Kinde. Tag für Tag ging sie hinaus; aber so sehr sie sich auch mühte, sie fand nirgends eine Spur ihres Knaben.

Da kam ein Sonntag, als sie sich wieder an der alten Stelle befand. Die Glocken der Kirche klangen mahnend zu ihr hinüber, und betend sank sie auf die Erde. Auf einmal fühlte sie die weiche Hand ihres Knaben auf ihrer Schulter. Er saß neben ihr, und das dunkle Loch war wieder da. Kein Wort sprach das Kind, es winkte nur und führte die Mutter tief hinab in die Erde. Vor ihnen öffnete sich ein weiter Raum, an dessen Wänden in dunklen Gläsern die Seelen ungetaufter und armer verlassener Kinder waren. Eins der Gläser nahm das Kind herab; in ihm war eine kleine zersprungene Seele verborgen. "Das ist meine Seele!" hauchte es leise. "Sie zersprang, als du mich über den Schätzen vergaßest. Nähe sie zusammen, dann bin ich erlöst!" Sofort holte die Mutter ihr Nähzeug hervor und begann ihr Werk. Da wand sich das Kind vor Schmerzen auf dem Boden und schrie: "Halt ein - du tust mir weh!" Die Mutter ließ sich aber nicht irremachen, sondern brachte ihr Werk rasch zu Ende. Da sprang der Knabe jubelnd empor; er war erlöst und geleitete die Mutter hinaus.

Als sie am Eingang des Loches wieder die funkelnden Schätze erblickte und schon danach greifen wollte, dachte sie an ihre Sünde und ließ die Finger davon. Schnell eilte sie mit ihrem geretteten Kinde heim; nie mehr hat sie sich durch trügerische Schätze in Versuchung führen lassen.

43. Die Heilandsweide

In Marienfelde steht in der Straße 37 am ehemaligen Königsgraben, ungefähr 60 Meter östlich der Marienfelder Allee, eine mächtige Silberweide. Ihr Durchmesser beträgt unten am Stamm 2 Meter, und wenn man sie umspannen will, müssen schon vier Erwachsene herumtreten und sich die Hände reichen. Sie ist ungefähr 200 Jahre alt und heißt seit altersher die Heilandsweide. Von ihr erzählt die Sage:

Als Marienfelde noch ein Bauerndörflein war und weit entfernt von Berlin lag, wohnte hier ein frommer Schäfer, der sich ernstlich bemühte, nach Gottes Wort und den Lehren des Heilands zu leben. Sein Haupt schmückte lang herabwallendes Haar, und ein prächtiger Vollbart gab seinem Gesicht einen würdevollen Ausdruck. Wegen seines frommen Lebenswandels und seiner äußeren Erscheinung hieß er im Dorfe allgemein der Heiland. Er war ein treuer Hirte seiner Herde. Wenn er seine Schafe auf die Weide trieb, mußte er darauf achtgeben, daß sie nicht zu weit in das Bruch hineingingen, das später durch den Königsgraben entwässert wurde. Als er eines Tages ein wenig ruhte, vernahm er plötzlich ein ängstliches Blöken vom Bruch her. Sofort eilte er dorthin und sah, wie ein Schaf, das sich zu weit vorgewagt hatte, im trügerischen Moor steckte und sich nicht mehr befreien konnte. Sofort sprang er, auf seinen Weidenstecken gestützt, von Bülte zu Bülte. Fast hatte er das versinkende Tier erreicht, als er fehlsprang und tief im grundlosen Sumpf versank. Als Hirt und Herde am Abend nicht heimkehrten, machten sich die Leute auf die Suche. Den Heiland fanden sie nirgends; nur sein hoch aufragender Weidenstab verriet die Stelle, wo er versunken war. Als man im nächsten Frühjahr wieder in den Ort kam, hatte der Weidenstab ausgeschlagen und grünte, und nach Jahren wuchs an der Stelle, wo der treue Hirte sein Grab gefunden hatte, eine stattliche Weide. Die Leute nannten sie die Heilandsweide.

Noch ist sie ein mächtiger Baum, der unter Naturschutz steht; doch seine Jahre sind gezählt. Das Alter hat die Weide morsch gemacht. Zwar hat man die Höhlungen ausgemauert und den beiden aus dem Hauptstamm entsprossenen Zwilligen durch eiserne Bänder Halt gegeben; doch hat der Sturm mit den Jahren schon manchen Ast ausgebrochen, so daß der alte Baum seine einstige Höhe eingebüßt hat. Sollten ihn die Stürme einmal völlig fällen, so wird die Heilandsweide doch in der Volkssage weiterleben.

44. Die Unterirdischen in der Hasenheide

In alten Zeiten, als die Hasenheide noch ein großer Wald war und weitab von der Stadt lag, wohnte dort eine arme Frau in ihrem einsamen Häuschen.

Eines Abends kamen aus dem dichten Walde zwei kleine Männlein zu ihr und baten sie, ihnen eine Schüssel zu leihen. Die Frau gab sie ihnen bereitwillig. Die beiden Kleinen legten die Schüssel auf zwei Stecken, hoben die Last auf ihre Schultern und trugen sie wie auf einer Trage davon. Wie staunte die Frau, als am anderen Morgen die Schüssel, gefüllt mit einem Stück köstlichen Bratens, wieder vor der Haustür stand.

Täglich kamen nun die Männlein wieder und baten um irgendeinen Gegenstand. Bald brauchten sie eine Pfanne oder einen Napf, bald ein langes Messer oder einen Kochlöffel. Und immer wieder stellten sie das Geliehene mit einem Gegengeschenk vor die Haustür.

Endlich wurde die Frau neugierig und wollte gern wissen, woher die Männlein kämen. Heimlich folgte sie ihnen eines Tages und sah, wie sie im Walde in einem Gang verschwanden, der tief in die Erde hinein führte. Sie schlich ihnen lautlos nach und kam an eine hell erleuchtete Höhle. Darin waren viele Köche beschäftigt, für das kleine Volk der Unterirdischen die Mahlzeit zu bereiten. Unbemerkt konnte die Frau sich wieder entfernen und heimkehren.

Die Unterirdischen in der Hasenheide

Als die Männlein am Abend wieder zu ihr kamen, verriet sie ihnen zwar nicht, was sie gesehen hatte, gab ihnen aber diesmal allerhand Kräuter und Gewürze für die Küche mit. Die Freude der Kleinen über diese Gaben war unbeschreiblich. Fortan fand die Frau jeden Morgen ein Stückchen Gold vor ihrer Tür, so daß sie ohne Sorgen leben konnte.

Das dauerte eine ganze Zeit, bis immer mehr Menschen in die Gegend zogen und sich ringsherum in Dörfern ansiedelten. Nun wurde es überall unruhig, und der Klang der Glocken drang bis in den Wald. Die Kirchenglocken konnten die Kleinen aber nicht hören, und Lärm war ihnen verhaßt. Da gaben die Unterirdischen ihren Wohnsitz in der Hasenheide auf und zogen in die Ferne. Es hat aber niemand erfahren, wo sie geblieben sind.

45. Die wilde Jagd

Im Osten von Köpenick bilden Spree und Dahme eine Insel, über welche sich der Höhenzug der Müggelberge hinzieht. Sie sind dicht mit Wald bewachsen, bieten aber von ihren lichten Höhen eine wundervolle Fernsicht. Nach Norden hin überschaut man den breiten Müggelsee; im Osten und Süden grünt überall die märkische Heide, ab und zu unterbrochen von dem glitzernden Spiegel der Dahme. Nach dem Westen hin aber überschaut man Köpenick mit seinem alten Schloß, und in der Ferne sieht man die Türme und Schornsteine unseres großen Berlin.

Um die Müggelberge schlingt die Sage ihr buntes Band, und namentlich der kleine, waldumhegte Teufelssee soll allerlei Gestalten bergen.

Wer da zur Nachtzeit vorübergeht, dem erscheint gar oft die wilde Jagd, die mit "Holla!" und "Hussa!" den Wald durchzieht. So ging es auch einem Manne aus Köpenick, der am Johannistage nach Müggelheim gefahren war. Er hatte sich verspätet, so daß er erst zur Nachtzeit zurückfuhr. Wie er nun an den Teufelssee kommt, stutzen seine Pferde plötzlich und wollen nicht vorwärts, so daß es ihm ganz unheimlich zumute wird und er sie mit aller Macht antreibt. Da bäumen sie sich auf und laufen in gestrecktem Galopp davon. Aber in den Kiefern ließ sich ein furchtbares Getöse hören, und allerlei seltsame Gestalten flogen zwischen den Bäumen dahin, so daß er Gott dankte, als er endlich glücklich nach Hause kam.

Andere wollen auch den lauten Schall von Jagdhörnern und das Gebell von Hunden gehört haben, und mancher Baumwipfel soll von der dahinsausenden Jagd getroffen und geknickt worden sein. Mancher ist mit gesträubem Haar ausgerissen, wenn er's gehört hat. Beginn aber der neue Tag zu dämmern, dann ist all das wilde Treiben vorbei.

46. Die Prinzessin vom Teufelssee

Im Teufelssee liegt ein versunkenes Schloß, in dem eine wunderschöne Prinzessin wohnt. In der Johannisnacht, wenn ringsum Glühwürmchen den Wald erleuchten, steigt sie aus der Tiefe empor und

schmückt den Saum ihres Kleides mit gelben Seerosen. Dann sitzt sie auf einem großen Stein am Ufer, flicht sich ihr langwallendes blondes Haar und seufzt und weint.

So sah sie einst ein kleines Mädchen aus Köpenick, das mit seiner Mutter im Walde Beeren suchte. Dabei war es von der Mutter abgekommen und hatte sich verirrt. Weinend lief es in dem dichten Walde umher, bis es an den düsteren See kam. Dort sah es eine wunderschöne Frau auf einem Stein sitzen, das war die verwunschene Prinzessin. Sie nahm das Kind an der Hand und führte es hinunter in ihr Schloß. Nachdem sie es bewirtet und reich beschenkt hatte, brachte sie es wieder hinauf.

Gern möchte die Prinzessin erlöst werden. Sie hat es schon manchmal versucht; aber noch keinem ist es gelungen.

So sah sie einst ein Mann am Abend aus dem Berge hervorkommen. Sie trug ein hübsches Kästchen in der Hand, das lauter Gold enthielt. Sie sprach ihn an und sagte ihm, daß er alles haben solle, wenn er sie auf den Rücken nähme und dreimal um die Köpenicker Kirche trüge; er dürfte sich aber dabei nicht umsehen - sonst würde sie nicht erlöst.

Da der Mann das Gold gut gebrauchen konnte, so faßte er sich Mut. Er nahm die Prinzessin auf den Rücken - sie war federleicht, so daß ihm das Wagnis gar nicht schwer erschien. Aber je näher er der Stadt kam, desto schwerer wurde sie. Doch hielt er tapfer aus und kam mit ihr bis zur Kirche.

Jetzt begann er den ersten Umgang. Da erschienen aber plötzlich Schlangen und Kröten und allerlei häßliche Tiere mit feurigen Augen - kleine Leute stürzten wild hinter ihm her und warfen ihn mit Holzstücken und Steinen; aber er ließ sich durch das alles nicht beirren und schritt getrost vorwärts. So war er schon bis zum dritten Umgang gekommen und hatte seine Aufgabe fast vollendet, als er hinter sich einen fürchterlichen roten Schein erblickte, als ob ganz Köpenick in Flammen stände. Da vergaß er das Verbot und sah sich um. Im Augenblick war alles verschwunden - ein heftiger Schlag raubte ihm das Leben.

Auch ein Bauer aus Rahnsdorf hat die Prinzessin gesehen. Er fuhr eines Nachts bei hellem Mondschein an dem Steine vorbei, als er eine weiße Gestalt dort oben sitzen sah. Seine Pferde wurden unruhig, so daß er alle Mühe hatte, sie im Zaume zu halten. Er war froh, als er bei der Spukgestalt vorüber war; sie hat ihm ihre Wünsche nicht mitteilen können.

47. Wie Köpenick zu seinem Namen kam

Vor langer Zeit war einmal ein alter Fischer, der in der Nähe von Köpenick lebte und namentlich am Müggelsee seine Netze auszuwerfen pflegte. Da geschah es einst, daß er auch dort war und ein großer Krebs vom See ans Ufer geschwommen kam. Der redete ihn an und sagte: "Ich will dir viel Glück bringen und dich zum reichen Manne machen, wenn du mich aus dem Wasser nimmst und mich nach dem ersten Ort jenseits der Spree bringst." Darauf nahm der Fischer den Krebs und ging mit ihm nach Köpenick zu, wo er ihn auf den Markt brachte, um ihn zu verkaufen. Da das Tier so groß war, fand sich bald ein Käufer; aber da begann der Krebs auf einmal zu rufen: "Kööp nicht! Kööp nich!" Nun dachte der Fischer wieder an die Bedingung, nahm seinen Krebs und ging weiter. Darauf setzte er über die Spree und kam nach Stralau, wo er den Krebs um vieles Geld verkaufte.

Zum Andenken aber an die Worte, die der Krebs dort vor allen Leuten auf dem Markt gesprochen hatte, wurde die Stadt Köpenick genannt. Die Stralauer aber zeigen noch alljährlich am Tage des großen Fischzuges, am 24. August, den großen Krebs, der von Köpenick dahin gebracht wurde.

48. Die Wassernixe im Rummelsburger See

Die Wassernixe im Rummelsburger Seeer Rummelsburger See hieß früher Stralauer See. In alten Zeiten soll in ihm ein Wasserfräulein von großer Schönheit gelebt haben.

Die hatte einen jungen Fischer lieb, der seine Netze im See auswarf. Einmal schenkte ihm die Nixe viel Geld, so daß er sich einen neuen Kahn und neue Geräte kaufen konnte. Dieser Kahn hatte eine wunderbare Eigenschaft: wenn der Fischer mit ihm über den See fuhr, wurde der Boden durchsichtig, und er konnte sehen, wo sich die meisten Fische befanden. Da wurde er bald ein reicher Mann; aber ein bißchen Grauen empfand er doch immer vor dem Wasserfräulein.

Sie besuchte ihn oft in mondhellen Nächten in seinem Kahn. Da geschah es einmal, daß ein Schuß vom Ufer fiel und die Nixe seufzend ins Wasser sank. Vorher konnte sie noch rasch ihren Schleier dem Fischer zuwerfen. Er ruderte eilends ans Ufer, um den vorwitzigen Schützen zu suchen. Er fand ihn tot, und seine Büchse war zersprungen.

In dieser Nacht pochte es heftig an des Fischers Tür. Als er öffnete, stand eine große Gestalt davor und rief ihm zu: "Du mußt sterben; denn du hast den Schleier meiner Tochter geraubt." Da lachte der Fischer: "So schnell geht das Sterben nicht! Ich habe den Schleier und behalte ihn! Deine Tochter muß mein Weib werden!"

In der nächsten Nacht holte der Mann den Fischer zum Hochzeitsfest. Da stand am Ufer des Sees ein wunderschönes Haus, aus dem Musik und Lachen erklangen. Im größten Raum war eine Hochzeitstafel gezogen, an der das Wasserfräulein saß und ihrem Liebsten zuwinkte. Er setzte sich zu ihr, und die Feier begann. Als die Mitternacht nahte, sagte die Nixe: "Um zwölf Uhr muß ich ein bißchen hinab auf den Grund des Sees." Das wollte dem jungen Ehemann nicht gefallen, und er stellte die Uhr nach, so daß die Mitternachtsstunde vorüberging. Als die Uhr dann doch endlich schlug, stieß das Fräulein einen wehen Schrei aus und verschwand. Und mit ihr verschwanden Gäste und Musikanten, Festespracht und Haus. Der Fischer lag einsam und verlassen am Ufer des Sees.

Da packte ihn wildes Weh nach dem verlorenen Glück. Er konnte die Wassernixe nimmer lassen und sprang in die vom Mondlicht überfluteten Wellen, um sie zu suchen. Niemals ist er wiedergekommen, und niemand weiß, wie es ihm drunten ergangen ist.

49. Prinzessin Oranke

Weit weg von unserer Stadt lebte einst die wunderschöne Prinzessin Oranke. Sie hatte einen Liebsten, der einmal mit seinem Schiff weit über das Meer fahren mußte. Da vergaß sie ihn bald und versprach einem andern ihre Hand. Für diese Untreue ereilte sie eine harte Strafe: sie wurde in eine Wasserjungfrau verwandelt und mußte in dem kleinen See bei Hohenschönhausen wohnen, der seitdem Orankesee heißt. Ihre Gespielinnen durfte sie mitnehmen, und sie hausten bei ihr auf dem Grunde des Sees als Wassernixen.

Rings um den See pflanzten die Nixen allerhand Strauchwerk; auch umgaben sie ihn mit einem dichten Schilfgürtel. Liebte es doch die schöne Oranke, allnächtlich mit ihren Gespielinnen an die Oberfläche zu kommen, zu baden und allerlei Kurzweil zu treiben! Dabei wollte sie aber unbeobachtet bleiben.

Das gelang ihr auch lange Zeit. Da wurde die Wasserjungfrau mutiger und tauchte eines Tages im lichten Sonnenschein auf. Wieder lachten und scherzten die Gespielinnen und freuten sich des schönen Tages. Doch ihr Gelächter war bis an das Ufer zu einem einsamen Wanderer gedrungen. Der eilte neugierig herbei und sah das liebliche Bild. Er konnte sich nicht davon trennen; wie ein Zauber zog es ihn zum Wasser. Rasch stürzte er sich hinein, um den untertauchenden Wassernixen zu folgen. Kein Menschenauge hat ihn seitdem wieder gesehen.

Prinzessin Oranke hat es nie wieder gewagt, am Tage aufzutauchen. Ja, sogar manche Nacht ist es still auf dem See. Nur wenn der Vollmond sein sanftes Licht hinunterschickt, dann steigt sie mit ihren Jungfrauen hinauf. Die Menschen aber hüten sich, in solchen Nächten dem See zu nahe zu kommen. Noch manchmal ist ein Vorwitziger dem Locken der Wassernixen zum Opfer gefallen und im tiefen Wasser des Orankesees versunken.

50. Der Mollwitzer Schimmel

Nicht weit vom Schlosse zu Niederschönhausen, in dem einst die Gemahlin Friedrichs II. wohnte, sieht man dicht an der Straße zwischen zwei Bäumen einen Hügel. Von dem erzählen die Leute, daß darin der Schimmel von Mollwitz begraben sei. In dieser Schlacht ging es dem König schlecht, und nur der Schnelligkeit seines Pferdes verdankte er es, daß er mit dem Leben davonkam. Zum Lohne dafür erhielt der Schimmel das Gnadenbrot, und die Königin ließ ihm dann ein eigenes Grab herrichten. Das soll der Hügel vor dem Schlosse zu Niederschönhausen sein.

So erzählt die Sage. Kluge Leute, die alles wissen wollen, behaupten allerdings, daß dieser Hügel ein Rest vom ehemaligen Eiskeller des Schlosses sei.

51. Der Tod der Julie von Voß

Als noch die Witwe Friedrichs II. im Schlosse von Niederschönhausen wohnte, befand sich in ihrem Gefolge eine Hof dame, die junge Julie von Voß aus Buch. Sie war von großer Schönheit und erregte das Wohlgefallen des jungen Königs, der oft die alte Königin in Niederschönhausen besuchte. Julie schenkte törichterweise ihr Herz dem König und ließ sich heimlich mit ihm trauen.

Nachdem sie ihm einen Sohn geboren hatte, fing sie an zu kränkeln und starb plötzlich in jungen Jahren. Ihr Sarg wurde in einer ausgemauerten Gruft vor dem Altar der Kirche in Buch beigesetzt. Im Park des Bucher Schlosses ließ ihr der König ein Denkmal errichten.

Das Volk erzählt sich jedoch den Tod der schönen Julie anders. Eine eifersüchtige Nebenbuhlerin soll der Kranken in einer Arzneiflasche einen Gifttrank gereicht haben, und daran sei sie gestorben. Auf dem Sockel ihres Denkmals im Schloßpark von Buch erblickt man nämlich einen Todesengel, der eine dem Tode geweihte Frau in seinen Mantel hüllt. Das soll die schöne Julie sein. An der Hand der Sterbenden fehlt ein Finger. Dieser soll die Giftflasche gehalten haben, die ihr die Feindin gereicht hatte.

52. Der Spuk in der Tegeler Mühle

Von der Tegeler Mühle erzählt sich das Volk folgende Sage: Der Tegeler Müller hatte eine wunderschöne Tochter; aber er fand keinen Mann für sie. Es sollte halt auch ein Müller sein. Die Freier, die sich bisher eingestellt hatten, waren aber in der ersten Nacht immer auf rätselhafte Weise ums Leben gekommen, so daß kein Geselle mehr vorsprach.

Da klopfte eines Tages aber doch ein fremder, hübscher Bursche an und wollte die Tochter freien. Alle Warnungen des Müllers und der Hinweis auf den rätselhaften Tod seiner Vorgänger nutzten nichts. Er ließ sich nicht abweisen, sondern blieb. Am Abend nahm er ein Beil zu sich und ging im Mahlraum zur Ruhe.

Als es Mitternacht schlug, schlüpfte eine graue Katze unter den Säcken hervor, setzte sich auf den Mühlstein und fing an, mit ihm zu wippen. Der junge Bursche sah ganz erstaunt zu. Wie konnte das leichte Tier den schweren Stein bewegen? Bald kamen noch zwei andere Katzen dazu. Auch sie sprangen auf den Stein und begannen, ihn wie rasend zu drehen. Jetzt wurde dem Gesellen doch ein wenig angst. Aber er nahm sich zusammen, sprang hinzu und jagte die Tiere hinab. Da fingen die Katzen plötzlich an zu wachsen. Sie wurden größer und größer und fauchten den Burschen grimmig an. "Au!" schrie die erste, "jau!" die zweite und "hau!" die dritte. Auf diese Zeichen fielen sie den frommen Müllerknecht an. Der kannte aber keine Furcht mehr. Schnell griff er nach dem Beil, holte aus und hieb der größten Katze eine Vorderpfote ab. Das war den Ungeheuern zu viel. Jammernd sprangen sie davon. Der Jüngling aber nahm die abgeschlagene Pfote auf. Im selben Augenblick verwandelte sie sich in eine Menschenhand mit einem Ring am Finger, der mit einem blutroten Stein verziert war. Verwundert blickte der Müllerknecht darauf nieder. Schließlich steckte er die Hand stillschweigend zu sich und meldete sich am nächsten Morgen gesund und froh bei seinem Meister.

Bald darauf kamen die ersten Kunden und wollten ihr Mehl abholen. Dabei erzählten sie, daß die alte Webern todkrank darniederliege. Da ging dem Gesellen ein Licht auf. Schnell erklärte er, er sei so klug wie ein Doktor und hätte schon vielen Kranken geholfen. Auch die alte Webern wolle er wieder gesund machen.

Als er das Zimmer der Kranken betrat, tat er sacht und bedächtig. Mit einem Blick betrachtete er sinnend das kranke Weib. Schließlich sprach er: "Zeigt mir Eure rechte Hand!" Die Frau lag nämlich bis obenhin zugedeckt. Schnell streckte sie ihren Arm unter der Bettdecke hervor. Aber es war der linke. "Nein!" sagte der Geselle, "es muß die rechte Hand sein!" Doch das Weib wollte diese durchaus nicht zeigen. "Gut", sprach der Geselle. "Wenn Ihr nicht wollt, dann seht her!" Unter diesen Worten wickelte er die abgehauene Hand aus. "Ist das vielleicht Eure Krankheit?" fragte er drohend und hielt ihr die nächtliche Beute vor. Da mußte die Alte unter Heulen und jammern gestehen, daß sie eine Hexe sei. Kaum war ihr letztes Wort gesprochen, da starb sie elend und verzweifelt.

Der fromme Müllerknappe aber heiratete nun die wunderschöne Müllerstochter, und nimmer hat sich der Spuk in der Tegeler Mühle wieder gezeigt.

53. "Und dennoch spukt's in Tegel"

Und dennoch spukt's in TegelIs die Postkutschen noch fuhren, ereignete sich in Tegel eine weitere Spukgeschichte, diesmal aber nicht in der Mühle, sondern in der Oberförsterei, die bei einem Bombenangriff im letzten Weltkrieg zerstört worden ist. In dem Fortshause lebte damals ein hübsches Mädchen, das einen Freier hatte. Die beiden jungen Leute hatten sich sehr lieb und wollten einander heiraten. Die Mutter des Mädchens, eine Witwe, war aber dagegen; ihr sagte der Bräutigam nicht zu. Sie wollte, daß ihre Tochter einen reichen Mann nähme. Das Mädchen ließ aber nicht von seinem Liebsten, und so gab es oft Zank zwischen Mutter und Tochter.

Nach solchen Auftritten soll es immer gespukt haben. Ein weißes Gespenst schlich in der Nacht heulend und stöhnend durch das Haus und durch den Garten, und im Schornstein polterte es ganz schauerlich. Am nächsten Tag kamen viele Neugierige in das Forsthaus und wollten von der Mutter das Erscheinen des Gespenstes ganz genau geschildert haben. So sprach sich die merkwürdige Geschichte schnell im Lande herum, und schließlich kamen auch Gelehrte und kümmerten sich um die Sache. Manche von ihnen blieben über Nacht im Spukhause, um das Gespenst zu entdecken. Dann hörten sie wohl die jämmerlichen Töne und das Gepolter, konnten aber die Ursache nicht finden.

Bald wurde es der Mutter zuviel; denn sie fand bei Tag keine Ruhe mehr vor Neugierigen und bei Nacht vor dem Spuk. "Es muß eine Mannsperson ins Haus", sagte sie daher zu ihrer Tochter. -"Ich will aber keinen andern zum Mann als meinen Liebsten", erwiderte diese. Da gab die Mutter endlich seufzend ihre Einwilligung zur Heirat, und von diesem Augenblick an hielt das Gespenst Ruhe. Nie wieder hat es im Hause gespukt und gepoltert. Nun zerbrachen sich die Gelehrten erst recht die Köpfe über den Spuk. Keiner aber hat jemals die Geschichte aufklären können.

Von diesem Tegeler Spuk sprach man damals im ganzen Lande. Auch unser großer Dichter Goethe hörte davon, und er schrieb das Wort, das ihr als überschrift zu dieser Geschichte lest.

54. Das Heiligtum auf der Dorfaue von Heiligensee

In alten Zeiten soll auf der Heiligenseer Dorfaue, zwischen der Schmiede und Kirche, ein Heiligtum gestanden haben, von dem eine wunderbare Heilkraft ausging. Von nah und fern kamen Kranke, die mit irgendeinem Gebrechen behaftet waren, und wurden hier gesund. Gelähmte, die man hinfahren mußte, fanden Heilung von ihrem Leiden und gingen zu Fuß nach Hause. Die Leute erzählten auch, daß die Krücken der geheilten Lahmen noch lange in der Kirche gehangen hätten.

Im Mittelalter wurde das Wasser des Sees in der ganzen Umgegend als heilkräftig verehrt. Alle hundert Jahre weihte der Priester des Ortes das Wasser mit einem silbernen Heiligenbild. Von weit und breit kamen dann die Leute herbei, um sich das geweihte und heilbringende Wasser zu holen, und mancher Leidende soll durch seine Wirkung wieder genesen sein.

55. Das versunkene Schloß

In alter Zeit stand am Heiligen See ein prächtiges Schloß. Darin wohnte eine wunderschöne Prinzessin. Zu manchen Zeiten ging sie mit ihren Gespielinnen aus dem Schloß hinaus und tat den Leuten, die im Dorfe wohnten, viel Gutes…

Einmal kam aber ein böser Zauberer an den See. Der verwünschte die Prinzessin. Als er seinen Fluch ausgesprochen hatte, erhob sich ein gewaltiger Sturm, und der wogende See verschlang das Schloß mit allen seinen Bewohnern.

56. Die Glocken im Heiligen See

Tief auf dem Grunde des Heiligen Sees liegen Glocken. Vor alter Zeit sind sie versunken. Zuweilen kommen sie aber zum Vorschein. Man sieht sie dann meistens mitten im See auf einer flachen Stelle liegen. Dort wärmen sie sich im Strahle der Mittagssonne. Einige Leute hörten sie auch schon sprechen. Es war gerade am Johannistag. Sie kamen aus dem See heraus, und die eine sagte zur andern:

"Anne Susanne, wiste mett to Lanne?"

Darauf antwortete die andere: "Nimmermeh!" Dann sanken sie, nachdem sie noch einmal angeschlagen hatten, wieder in die Tiefe.

57. Die weiße Frau im Schifferberg

Wenn man mit dem Schiff die Havel abwärts nach Spandau fährt, sieht man gleich hinter dem Dorf Heiligensee zur Linken einen Berg, dessen flacher Gipfel mit Kiefern bestanden ist. Sein weißer Sand leuchtet weithin zum Flusse, wenn die Sonne darauf scheint. Er bildet seit alter Zeit ein Merkzeichen für die Schiffer, und darum heißt er der Schifferberg.

In seinem Innern wohnt tief verborgen die weiße Frau. Nur einmal im Jahr verläßt sie ihr geheimnisvolles Schloß. Am Johannistag hüllt sie sich in einen langen weißen Schleier und setzt sich eine strahlende Krone aufs Haupt. Wenn die Glocken im Dorf zu Mittag läuten, öffnen sich die Tore des Schlosses, und die weiße Frau schreitet feierlich aus dem Berge. Ein feines Singen und Klingen zieht durch die Luft, und ihr weißer Schleier wallt weithin im Sonnenglanze. Doch nur selten haben Menschen die weiße Frau gesehen. Es müssen schon begnadete Sonntagskinder sein.

58. Die verwunschene Edelfrau

Früher wohnte in Heiligensee eine Edelfrau, die in ihrem Leben viel Unrecht getan hatte. Oftmals hatte sie ihre Knechte und Mägde gequält und hart behandelt. Darum waren alle froh, als sie endlich starb.

Als die Frau schon längere Zeit tot und beerdigt war, sahen die Mägde sie eines Tages über den Hof gehen. Alles blieb stehen und sah der Erscheinung nach. Die Frau kümmerte sich aber um nichts, schritt ruhig weiter und verschwand im Stall. Lange Zeit wagte niemand näherzutreten. Dann aber sahen einige beherzte Mägde doch nach, was sich im Stall ereignet hatte. Ruhig fraßen die Schweine aus dem Trog, und - auch die Frau lag davor und fraß mit dem Vieh. Nach einer Weile erhob sie sich, ging aufrecht und ruhig an dem erschreckten Gesinde vorüber und verschwand.

Nun lebte im Dorf auch ein Schäfer. Der war tagsüber mit seinen Schafen auf der Weide. Wenn aber der Abend kam, trieb er sie in eine Hürde. Dann wickelte er sich in seinen Mantel und schlief in einer Hütte, die auf der Weide stand. Einmal hörte er um Mitternacht ein mächtiges Getöse und wütendes Hundegebell. Er stand auf und trat vor die Tür. Da merkte er, daß die wilde Jagd vorüberbrauste. Er konnte sich nicht halten und fragte einen aus dem Gefolge, was das Getöse zu bedeuten hätte. Der antwortete ihm: "Das ist die gnädige Frau, die hat viel Unrecht getan und wird nun mit den Hunden des wilden Jägers gehetzt."

59. "Die Unnerärdschen" im Walde bei Heiligensee

In den bewaldeten Bergen zwischen dem Dorfe Heiligensee und dem Tegeler See lebten in alten Zeiten kleine Erdgeister. Weil sie ihre Wohnungen tief in der Erde hatten, hießen sie die "Unnerärdschen". Des Tages gruben sie in der Tiefe der Berge nach Schätzen, die sie in ihren unterirdischen Höhlen verbargen. Nur, wenn sie sich völlig unbeobachtet glaubten, kamen sie an die Oberfläche; deshalb haben Menschen selten die "Unnerärdschen" beobachten können. Sie waren von kleiner Gestalt, hatten dicke Köpfe und alte, runzlige Gesichter. Obwohl sie häßlich aussahen, waren sie gutmütig und taten keinem etwas zuleide. Einmal sollen einige dieser Erdgeister in das Haus des Bauern Dannenberg in Heiligensee gekommen sein. Man fand nachher einen kleinen Krug, den sie in der Eile hatten stehen lassen.

Als später oft Menschen in den Wald kamen, fühlten sich die kleinen Wichte nicht mehr wohl und beschlossen, sich eine neue Stätte zu suchen. Eines Tages erschienen einige von ihnen bei einem Schiffer, dessen Kahn gerade auf der Havel vor Anker lag. Wie staunte der Mann, als sie ihm ein Kästchen mit Gold und Silber zeigten! "Diese Schätze sind dein", sprachen sie, "wenn du uns dazu verhilfst, daß wir über deinen Kahn hinweg ans andere Ufer gelangen". Der Schiffer war ein armer Mann und sagte gern zu, von seinem Fahrzeug einen Steg zum anderen Ufer zu werfen. "Doch eine Bedingung stellen wir noch", sagten die Kleinen. "Du mußt am Abend ruhig schlafen gehen und darfst dich um nichts kümmern." Das versprach der Mann.

Als es dunkel wurde, begab sich der Schiffer in seiner Kajüte zur Ruhe. Doch konnte er nicht einschlafen; denn über ihm trippelte und trappelte es unaufhörlich. Immer wieder kamen neue Scharen, die ganze Nacht hindurch. Am Morgen wurde es still. Die "Unnerärdschen" waren aus den Bergen bei Heiligensee verschwunden.

60. Der Küselwind

Am Wasser bei Heiligensee erhob sich früher oft ein heftig drehender Sturm, der alles vernichtete und großen Schaden anrichtete. Auf der Havel und dem See kenterten die Boote, Bäume wurden mit der Wurzel aus der Erde gedreht und im Dorfe die Dächer abgedeckt. Die Leute nannten diesen Luftwirbel Küsel- oder Drilwind. Sie meinten auch, in der Mitte des Wirbels säße ein Hexenmeister, der das Unwetter errege.

Einmal befand sich ein Mann auf dem Felde beim Dorfe, als er merkte, wie es ganz schwarz in der Luft wurde und ein Drilwind näher kam. Er zog sein Messer und warf es mit der Spitze in die Mitte des Wirbels, der sofort zum Stehen kam. Wie erschrak er aber, als plötzlich ein schwarzer Mann heraustrat, der hinkte! Das war der Hexenmeister, der den Sturm verursacht hatte und der durch das Messer verletzt worden war. Drohend trat er auf den Messerwerfer zu und rief: "Tust du das noch einmal, so geht es dir schlecht. Dann drehe ich dir den Hals um!" Dann verschwand er, und langsam drehend bewegte sich der Wind weiter.

Niemals wagte der Mann wieder, sein Messer zu werfen, wenn draußen der Küselwind tobte.

61. Der Schatz in der Braupfanne

Am Südausgang von Heiligensee führt heute eine hochgelegte Brücke über den breiten Graben, der See und Havel miteinander verbindet. Früher mußte man mit einem Kahn übersetzen, und die Wiesen waren flach und sumpfig.

Vor Zeiten soll dort eine alte Weide gestanden haben, deren Stamm völlig hohl war. Nachts leuchteten Irrlichter auf, und es war unheimlich an diesem Ort. Die Leute erzählten auch, unter den Wurzeln der Weide läge in einer Pfanne, wie man sie damals zum Bierbrauen gebrauchte, ein Schatz vergraben.

Einmal versuchten ein paar beherzte Leute, um die Mitternachtsstunde den Schatz zu heben. Als sie gruben, stießen sie auf eine eiserne Kette, an der sie mit aller Gewalt zogen. Mit einem Male riß die Kette, und sie hörten ein gewaltiges Plumpsen, als ob eine schwere Last ins Wasser fiele. Dann war alles still; Irrlichter schwebten hin und her, und die Schatzgräber flohen von dem unheimlichen Ort, so schnell sie konnten.

IV. Am Rande der Großstadt

62. Der Katharinensee bei Schildow

Nicht weit von Hermsdorf liegt auf der Nordseite des Fließes das Dorf Schildow. Es gehörte in alten Zeiten den Mönchen des Klosters Lehnin, und die Kirche des Dorfes war der heiligen Katharina geweiht. In der Nähe des Ortes liegt der stille Katharinensee, der auch nach der Heiligen benannt ist. Die Sage berichtet aber ganz anders darüber, wie der See zu seinem Namen gekommen ist:

Katharina war die Gänsehirtin des Dorfes. Einst hütete sie wieder die Gänse auf den grünen Matten am Ufer des Sees. Es war ein heißer, schwüler Sommertag. Kein Lüftchen regte sich, und Menschen und Tiere waren matt und müde. Im Westen zog sich ein Wetter zusammen, dessen Sicht aber durch den weiten Wald verdeckt wurde. Die Gänse hatten sich satt gefressen und tummelten sich auf dem Wasser. Katharina aber hatte sich im Schatten eines Baumes niedergesetzt, und bald waren ihr vor Müdigkeit die Augen zugefallen. Plötzlich erwachte sie von dem heftigen Rollen des Donners und bemerkte, wie sich dasWetter drohend nahte. Schnell wollte sie noch vor seinem Ausbruch mit ihrer Herde das schützende Dorf erreichen. Sie versuchte, die Gänse, die sich bereits im Schilf verkrochen hatten, an das Ufer zu jagen. Trotz des Rufens, Lockens und Scheuchens kamen sie jedoch nicht aus ihrem Versteck heraus. In ihrem Eifer und der Angst vor dem Wetter achtete Katharina dabei nicht auf das Ufer, so daß sie den Boden unter den Füßen verlor und ins Wasser stürzte. Von ihrem gellenden Hilfeschrei, den zuckenden Blitzen und furchtbaren Donnerschlägen aufgeschreckt, erhoben sich die Gänse und flogen schreiend dem Dorfe zu. Hier wartete man lange auf Katharina. Alles Suchen und Forschen nach ihr blieb vergeblich, nirgends fand sich eine Spur der Gänsehirtin. - Seit dieser Zeit heißt der See "Katharinensee".

Katharina aber, die durch die Gänse ihr Leben verlor und deren Geist nun in der Tiefe wohnt, läßt nicht zu, daß jemals wieder Gänse auf ihr Wasser kommen. Nie wieder hat der See eine Gans auf seinen stillen Fluten gelitten.

63. Der Kindel

Hinter Glienicke, zwischen den Dörfern Schönfließ, Schildow und Lübars, liegt der Kindelwald mit seinen sumpfigen Niederungen und baumbestandenen Werdern. Da gibt es die Kindelwiese, die Kindelbrücke, den Kindelsee, das Kindelfeld und das Kindelfließ. Die gelehrten Leute wissen nicht, woher der Name "Kindel" stammt; nur die Sage vermag es zu erklären:

Wenn in früheren Zeiten Krieg war und die Feinde die Dörfer am Kindel heimsuchten, trieben die Bewohner ihr Vieh in den Kindelwald und versteckten sich selbst auf seinen schwer zugänglichen Werdern. Einmal, als Feinde in der Nähe waren, suchten die Lübarser wieder ihren schützenden Zufluchtsort auf. Bei ihrer eiligen Flucht vergaßen sie aber, ein armes Kindlein aus dem Dorf mitzunehmen. Als nun die Feinde in den Ort kamen und keine Beute fanden, nahmen sie Rache an dem unschuldigen Kindlein. Sie töteten es und gruben die Leiche am Rande des Kindelfließes ein. Seitdem soll der Wald den Namen "Kindel" führen.

64. Die Kindelhexe

Vorzeiten lebte auf seinem Schlosse, unweit des Kindelwaldes, ein schönes und reiches Edelfräulein. Aus der ganzen Umgegend kamen viele adlige Freier und hielten um seine Hand an. Das Fräulein wies aber alle ab. Es hatte nämlich an einem stattlichen Bauernburschen in Glienicke Gefallen gefunden und wollte nur ihn allein zum Gemahl nehmen. Der junge Mann hatte aber bereits eine Liebste, von der er nimmer lassen wollte. Da lud das eifersüchtige Edelfräulein die Braut auf sein Schloß und setzte ihr vergiftete Speisen vor, so daß sie bald darauf starb. Wegen dieser übeltat erhielt das Fräulein eine harte Strafe: es wurde in eine Hexe verwandelt und in den Kindelwald verbannt. Seine Erlösung sollte nur möglich sein durch ein unschuldiges junges Mädchen, das am Heiligabend Mitleid und Erbarmen mit ihm fühle.

In einem Dickicht des schwer zugänglichen Waldes stand das halbverfallene Häuschen der Verwunschenen. Wenn sie in ihrer häßlichen Gestalt mit runzligem Gesicht und rotumränderten Augen durch den Wald geschlichen kam, flüchteten die Kinder, die Beeren suchten, und die Frauen, die Holz lasen. Sie soll auch oftmals das Vieh in den Ställen der Bauern verhext und Krankheit und Tod auf die Menschen herabgeschworen haben. Alle fürchteten die Hexe und mieden sie; selbst der Tod wagte sich nicht an sie heran. Unter den Leuten ging deshalb das Gerücht, die Hexe könne nicht sterben.

Einmal - es war am Heiligabend -, als die Alte durch den verschneiten Wald strich, traf sie auf ein junges Mädchen, das aus Verzweiflung über die Trunksucht seines Vaters und das ewige Elend daheim in den Wald gelaufen war, um zu sterben. Als die Jungfrau die häßliche Gestalt erblickte, erschrak sie nicht vor ihr und lief auch nicht davon, wie es sonst alle Menschen taten. Sie faßte vielmehr Vertrauen zu ihr und klagte ihr ihren Kummer. Das Leid des Mädchens öffnete auch der Alten das Herz, so daß sie ihm ihre schwere Schuld beichtete. Zum ersten Male nach unendlich langer Zeit fühlte eine unschuldige Menschenseele Mitleid und Erbarmen mit der Verbannten. Aus Dankbarkeit schenkte sie dem Mädchen eine silbergeflochtene Blume, geschmückt mit kostbaren Diamanten und Edelsteinen. Mit diesem Schatz kehrte die Beglückte ins Dorf zurück, wo alle Leute staunend das Kleinod betrachteten. Am andern Tage wanderte das Mädchen nach Spandau und weihte die kostbare Gabe den frommen Klosterfrauen. Die gaben ihm dafür Vieh, Saatkorn und Geld, so daß es nun seinen Eltern wieder eine Bauernwirtschaft einrichten konnte. Der Vater ließ von seinem Laster und wurde ein nüchterner und fleißiger Mann.

Seit dieser Zeit hat niemand mehr die Kindelhexe gesehen. Das silberne Kleinod aber sollen plündernde Soldaten während eines großen Krieges den Spandauer Nonnen geraubt haben.

65. Die Untermühle bei Birkenwerder

Nach Birkenwerder fahren im Sommer viele Berliner, um sich dort im Freien von den Arbeitstagen zu erholen. Viele von ihnen werden am Teiche der Untermühle rasten. Die meisten werden aber nicht ahnen, daß es dort nicht ganz geheuer ist; denn in früherer Zeit hieß die Mühle Koboldsmühle. Von ihr berichtet die Sage allerhand Geschichten.

Es lebte dort einst eine Müllerin, die nur ein einziges Kind, ein hübsches Mädchen, hatte. Das war ihr Augapfel; aber trotz größter Obhut erkrankte das Kind. Wie es auch die Mutter wartete und pflegte, in einer Nacht löschte das Leben aus. Der Schmerz der Mutter war furchtbar und verwirrte ihr die Sinne. Sie saß nun Tag und Nacht am Teiche und wartete darauf, daß ihr Kind wiederkommen sollte. Als es gar nicht erscheinen wollte, da stürzte sie sich in ihrer Verzweiflung in den Teich, um mit ihrem Mädchen wiedervereint zu werden. Doch fand die arme Frau keine Ruhe. In jedem Jahr erscheint sie in der Nacht, da ihr Kind starb, und steht auf der Brücke, nahe der Mühle. Tief schwarz ist sie gekleidet; händeringend blickt sie nach der Mühle hinüber, als ob sie immer noch hoffe, daß das Mädchen wiederkomme. Dann geht sie weiter und sucht überall seufzend und weinend. So haben sie schon viele gesehen - nimmer findet ihre Mutterliebe Ruhe.

Aber noch ein anderes Gespenst treibt in der Untermühle sein Wesen. Das ist ein kopfloser Reitersmann, der das ganze Gehöft durchstöbert, als ob er etwas suche. Da soll nämlich zur Schwedenzeit, als die Brandenburger hinter den Schweden herjagten, ein großer Kriegsschatz vergraben worden sein. Der kopflose Reiter muß dabei gewesen sein, sonst würde er nicht nach der Eisenkiste im Mühlengrund gesucht haben. Allmählich scheint ihm aber die Geschichte langweilig geworden zu sein; denn seit längerer Zeit ist er nicht mehr gesehen worden. Der Schatz muß also da irgendwo noch liegen, es hat ihn aber bisher noch niemand gehoben.

66. Der preußische Pfiff

Der Alte Fritz ging in einem alten Soldatenmantel öfter abends in Potsdam umher und in die Wirtshäuser, um zu sehen, was seine Soldaten da angäben. Einst fragte er einen, der viel draufgehen ließ: "Kamerad, wo hast du denn das Geld her?" "Ja", sagte der, "wer den preußischen Pfiff nicht kennte" - "Was ist das?" - "Ich verkaufe, was zu verkaufen ist. Was brauche ich eine stählerne Klinge!" und er zieht eine hölzerne Säbelklinge heraus. Der König merkt sich den Soldaten genau, und nach einiger Zeit muß das Regiment antreten.

Der König reitet einige Male auf und ab und läßt dann den Kameraden von neulich vortreten.

"Zieh sofort deinen Säbel, und hau dem Nebenmann den Kopf ab!"

"Ach, Majestät, mein Nebenmann hat mir nichts zuleide getan." -

"Zieh, oder er soll dir den Kopf abschlagen!" - Da bleibt dem Manne nichts anderes übrig, er legte die Hand an den Griff und ruft: "Nun denn, so möge Gott mich vor Mord behüten und geben, daß meine Säbelklinge zu Holz wird!"

Und siehe da, wie er sie herauszieht, ist die Klinge von Holz! Der Alte Fritz lachte. "Ich merke, du versteht den preußischen Pfiff."

67. Kom'n se, denn kom'n se nich

König Fritz keem eens bi'n Buern vorbi, de säjt grod Arwten, un de König hört, dat der Buer ümmer vör sich hin secht: "Kom'n se, denn kom'n se nich, un kom'n se nich, denn komn' se."

Do fröcht he den Buern, wat dat bedüden süll, un de Buer lecht ein dat ut: Do wieren in de Gegend so väl Duwen, un wenn nu de Duwen kemen und de Arwten upsammeln däd'n, denn keemen de Arwten nich. iwer wenn de Duwen nich keemen, denn keemen de Arwten.

68. Der Alte Fritz und die Martinsgans

Der Alte Fritz in Potsdam hatte gehört, daß in der Mark jeder seine Martinsgans äße, und wenn es der ärmste Mann im Dorfe wäre. Da wollte er selbst mal sehen, ob das wahr wäre, verkleidete sich am Martinstage als Handwerksbursche und ging hinaus auf die Dörfer. Das ärmlichste Haus eines Dorfes suchte er sich aus. Darin wohnte der Schweinehirt, der zugleich Besenbinder war: da klopfte er an. Als ihm aufgetan wurde, sagte er, er wäre ein reisender Handwerksbursche und hätte keinen Pfennig mehr in der Tasche; es wäre so kalt, ob er wohl ein Nachtquartier kriegen könnte. "ja, du kannst bleiben, wenn du da schlafen willst", sagte der Mann und wies auf einen Haufen Besenreiser, der in der Ecke lag. "Sonst geht's nicht, ich habe für mich selbst kaum ein Nachlager." Der Alte Fritz sagte, er wäre damit zufrieden und legte sich auf die Besenreiser. Der Schweinehiert aber, der schon eine Handvoll Reiser zum Binden fertig dazuliegen hatte, arbeitete weiter.

Der Alte Fritz - oder der Handwerksbursche - wartete nun sehr neugierig auf den Augenblick, wo das Essen aufgetragen wurde. Richtig, als Essenszeit war, kam eine Gans auf den Tisch, eine schöne, knusprige Gans. Der Besenbinder stellte noch eine Schnapsflasche und ein Glas dabei und rief dann den Handwerksburschen heran. Der setzte sich und bekam auch wirklich seinen Teil ab. Er ließ sich's schmecken, liebäugelte dabei auch mit der Schnapsflasche und langte dann auch danach; denn er nahm auch ganz gern mal einen.

Da nahm ihm aber der Besenbinder die Flasche aus der Hand, wischte ihm eine aus und sagte dabei: "Einschütten kommt dem Hausherrn zu!" Da gab sich der Handwerksbursche zufrieden und bekam dann auch sein Glas eingeschenkt.

Den andern Tag wanderte er wieder nach Potsdam zurück auf sein Schloß. Nach einiger Zeit schickte er hin zu dem Besenbinder und ließ ihn zu sich aufs Schloß einladen. Der Mann zerbrach sich vergebens den Kopf, wie der König wohl dazu käme, gerade ihn einzuladen, zog seinen guten Rock an und ging hin. Er mußte mit zur königlichen Tafel kommen und sich dem Könige gerade gegenüber setzen, aber er erkannte seinen Handwerksburschen nicht wieder. Bei jedem Teller für jeden Tischgast stand eine Flasche Wein da, aber keiner schenkte sich ein. Der Alte Fritz hatte nämlich vorher seinen Hofherren Bescheid gesagt, und nun stieß jeder den andern an und gab ihm einen Wink, er solle doch anfangen mit dem Einschenken. Dies Manöver ging nun die ganze Tafel herum, bis es an den Besenbinder kam. Der aber sagte ganz laut: "Nee, fällt mir nicht ein! Einschütten kommt dem Hausherrn zu." -"Das war dein Glück!" sagte der König. "Sonst hättest du drei für die eine wieder gekriegt." Jetzt merkte der Besenbinder, wer der Handwerksbursche gewesen war und stotterte allerhand Entschuldigungen heraus.

69. Nowawes

Nowawes bei Potsdam wurde von König Friedrich IIL gegründet. Er siedelte an dieser Stelle Weber an, die aus Böhmen und Sachsen eingewandert waren. Die kleinen Häuser waren schon ziemlich fertig; aber der neue Ort hatte noch keinen Namen erhalten.

Als der König sich eines Tages, gemeinsam mit seinem Baumeister, vom Fortschritt der Arbeiten überzeugte, folgten ihm viele Neugierige nach. Der Alte Fritz freute sich, daß alles so rüstig vorwärtsging, und er sprach zu seinem Begleiter: "Der Ort ist bald fertig - aber er hat noch keinen Namen. Wie wollen wir ihn nennen?" Ehe der gute Baumeister noch antworten konnte, rief einer der Umstehenden in märkischem Platt: "No, wer weeß?" Da soll sich der König lachend umgedreht und zu dem Manne gesagt haben: "Richtig, Alter! Wir wollen ihn Nowawes nennen!"

So erzählt die Sage. Ganz kluge Leute behaupten allerdings, daß Nowawes die übersetzung des Namens Neuendorf ins Böhmische sei. Neuendorf lag schon lange daneben, und so wäre Nowawes nur eine übertragung in die Heimatsprache der neuen Siedler gewesen.

70. Selberjedan und der Havelnix

Es war einmal ein Schiffer, der hatte sich auf der Havel vor den Wind gelegt und wollte sich ein Gericht Fische fangen. Als er genug geangelt hatte, machte er sich ein Feuer, sie zu braten. Wie er nun die Fische in seiner Pfanne über dem Feuer hat - es war so um die Schummerzeit - da kommt auf einmal ein Wassernix aus der Havel zu ihm aufs Schiff. Das war ein ganz kleines Kerlchen, so groß wie ein Hähnchen, hatte eine rote Kappe auf, stellte sich neben ihn und fragte ihn, wie er heiße: "Wo ick heeten do?" sagte der Fischer, "ick heet Selberjedan, wenn de det weeten wist!" "Na, Selberjedan", sagte der Wassernix und konnte knapp reden, weil er das ganze Maul voll Padden hatte, "Selberjedan, ich bedrippe di." "Ja, dat saste mol dohn", sagte der Schiffer, "denn nehm ick'n Stock und schlo di domet vor de Rügge, dat de janz krumm und scheef waren sast." Aber der Wassernix kehrte sich nicht daran und sagte noch einmal: "Ick bedrippe di", und ehe mein Schiffer es sich versieht, speit er ihm alle Padden in die Pfanne. Da nahm der Schiffer seinen Stock und schlug auf den Wassernix ganz barbarisch los, daß er gottsjämmerlich zu schreien anfing und alle Wassernixen ihre Köpfe aus dem Wasser steckten und ihn fragten, wer ihm denn was getan habe, daß er so schreie. Da schrie der Wassernix: "Selberjedan! Selberjedan!" Als das die andern Wassernixen hörten, sagten sie: "Hast du't selber jedan, so is di nicht to helpen", und damit tauchten sie wieder unter. Da sprang auch der geschlagene Wassernix wieder in die Havel; er hat aber keinen Schiffer wieder "bedrippt".

71. Der Kobold auf der Mühle

In einer einsamen Wassermühle im Havellande wohnte in alten Zeiten ein Müller ganz allein. Bei dem klopfte es an einem stürmischen und regnerischen Abend ans Fenster. Als der Müller fragte, wer da wäre, antwortete eine Stimme: "Um Gottes willen laßt mich ein, ich habe mich verirrt und komme sonst um in dem furchtbaren Wetter!« Der Müller nahm die Lampe und öffnete die Haustür, fuhr aber erschrocken zurück; denn vor ihm stand neben einem Mann ein schwarzes Ungetüm. "Ach, erbarmt Euch", sagte der Mann, "ich bin ein Bärenführer und weiß mit meinem Tiere nicht mehr, wo aus noch ein. Gönnt mir ein Plätzchen zum Nachtquartier!" - Der Müller kraute sich hinter den Ohren und sagte: "Ja, für Euch hätt' ich wohl einen Platz auf der Ofenbank in meinem Stübchen, wenn Ihr damit zufrieden sein wollt. Aber wo soll ich mit Eurer wilden Bestie hin? Einen Stall habe ich nicht, und in die Stube können wir doch das Tier nicht nehmen." -"I", antwortete der Mann, "könnten wir ihn nicht in die Mühle bringen? Schaden an Korn und Mehl könnte er Euch ja nicht tun, und übrigens lege ich ihn ja auch an die Kette." - "Das ginge wohl", sagte der Müller, "aber ich muß Euch sagen: Dort ist es nicht richtig. Es spukt in der Mühle ein Kobold umher, der mir seit Jahren Herzeleid angetan hat. Er rumort dort die ganze Nacht herum, schüttet die Kornsäcke aus, streut das Mehl umher und treibt noch sonst allerlei Unfug und Mutwillen." - "Ei", rief der Bärenführer, "was schadet das? Meinem Bären wird der Kobold nichts anhaben, der wird sich schon seiner Haut wehren. Nehmt uns nur auf, ich bitte Euch!"

Gesagt, getan. Der Bär wurde in die Mühle gebracht, und dem Führer bereitete der Müller ein Lager auf der Ofenbank. Mitten in der Nacht erwachten die beiden Männer von einem furchtbaren Rumor in der Mühle. Es ging dort kopfüber und kopfunter, und da zwischen hörte man das tiefe Brummen des Bären und hier und da ein Quieken und jämmerliches Grunzen. "Horch!" sagte der Müller, "da hat der Kobold sich an den Bären gemacht." - "Das wird sein eigener Schade sein", lachte der Bärenführer. "Ja, wollte Gott", seufzte der Müller, "daß der Bär meinem Plagegeist recht ordentlich den dicken Kopf zurechtsetzte!" Noch ein heller Schrei, dann war alles still, und die Männer schliefen wieder ein.

Am Morgen fand man den Bären wohlbehalten in der Mühle, und nachdem der Müller seine Gäste noch mit Speis' und Trank erquickt hatte, zog der Fremde mit seinem Bären unter herzlichem Dank von dannen. Und sieh, von Stund' an ließ sich kein Kobold mehr in der Mühle sehen! Der Bär mußte es ihm verleidet haben. - Wer war glücklicher als der Müller!

So ging wohl ein ganzes Jahr hin. Da, an einem dunklen Abend, als der Müller still in seiner Stube saß, öffnete sich leise die Tür, und zum Schrecken des Müllers steckte der Kobold seinen unförmigen Kopf in die Stube und sagte: "Möller, Möller, lewet juwe grote schwarte Katt' noch?" Rasch faßte sich der Müller und rief: "Jo, de lewet noch und hett sewen Jungen!" Da schlug der Kobold entsetzt die Tür zu und ist seitdem nie wiedergekommen.

72. Die Legende, wie der erste Märker entstand

Vor grauer Zeit unser Heiland Christ zur Spree und Havel gekommen ist mit Sankt Peter, seinem treuen Knecht. Hilf Gott, wie war die Gegend schlecht! Im knietiefen Sand Sankt Peter verlor den einen Schuh und den andern im Moor. Grauer Nebel über schwarzgrauer Heide hing. Sankt Peter zum Wandern die Lust verging. Sie standen an dem Waldesrand; da zog der Heiland mit seiner Hand vom Himmel den Nebelschleier herab, daß Sonnenschein die Welt umgab. Da unten lag eine lichtgrüne Au', ein reizend Wasser mit leuchtendem Blau, ringsumher Wiesen, die glänzten hell wie Smaragd. Sankt Peter das Herz im Leibe lacht. "0 Jesu Christ, o Herre mein! Soll denn dies Land ohn' Menschen sein? Schaff' Bauern doch für diese Au'n, daß man noch mehr mag Schönheit schaun!" Der Herr sprach lächelnd: "Peter, ich tu's" - stieß einen Kienapfel an mit dem Fuß:

"Sei ein Mensch!" - - Statt des Kienapfels - siehe da! - Sankt Peter das Urbild des Märkers sah. Hu, welch ein gräßlicher Grobian! - Gar wenig höflich war der Mann, seine Fäuste ballte er und schrie den Heiland an: "Wat stöttste mi?" Und die Augen rollte er dazu wild, daß vor dem struppigen Mannsgebild, dem Trotz und Grobheit im Blute stak, Sankt Peter über die Maßen erschrak. "0 Jesu Christe, Herre mein, Kienapfel laß ihn wieder sein!" -Doch milde sprach der Heiland Christ: "Nein, Peter, der bleibt, was er ist!

Will er in dem Sumpf und im Sand gedeihn, Dann muß er trutzig und rauhhaarig sein!" - - Allzeit ging in Erfüllung das Wort des Herrn: Der Märker ist grob - aber brav ist sein Kern.

V. nochmal Berlin

73. Am Goldfischteich

Jetzt paßt mal auf und hört mich an,
Was ich Euch heut erzählen kann!
Wer kennt den Teich,
Wie heißt er gleich,
Wo gold'ne Fischlein schwimmen?
Wo rings im Wald
Gesang erschallt
Von lustigen Vogelstimmen?
Nun sagt mir mal, wie heißt er gleich?
Der Goldfisch --? Richtig! Goldfischteich!

Dort saß ich eines Sonntags früh
Auf einer Bank alleine,
Der Hahn schrie eben Kikriki
Und reckte sich die Beine.
Da plötzlich tönt's wie Flötenschall,
Und schmetternd singt Frau Nachtigall:
"Wacht auf, wacht auf Ihr Spatzen
Sonst fangen Euch die Katzen,
Kühwüt, kühwüt, kühwüh,
Es ist heut Sonntags früh.
Wacht auf, wacht auf Ihr Finken,
Die Sonnenstrahlen blinken
Wacht auf aus Eurem Käfertraum
Ihr Schwalben auf dem Lindenbaum
Und kommt zum Täßchen Morgentau
Allsamt zur alten Zeisigsfrau!"
Die Fischlein sprangen plitsche platsch,
Die Frösche quakten quak, quak, quatsch
Bei Zeisigs ist heut' Kaffeeklatsch.

Und ein ganz frecher Spatz der piept,
Ob es auch Schrippen-Mehlwurm giebt.
Doch alle machten sich jetzt fein
Und putzten Schnabel, Federn, Bein,
Denn heute gab es nichts zu thun,
Sie konnten von der Arbeit ruh'n,
Und Raupen, Würmer, Käferlein,
Die durften heute lustig sein
Und grüne Blätter essen
Und wurden nicht gefressen.
Denn alle Sonntag war es ja,
Daß auf der hohen Eiche da
Die alte Zeisigsgroßmama
Gab einen großen Morgenschmaus
In ihrem eig'nen Vogelhaus.

Drum wer von Euch recht früh aufsteht,
Zum Goldfischteich am Sonntag geht,
Der hört die Käfer schnacken
Und hört die Frösche quaken
Und sieht die Fischlein springen
Und hört die Vöglein singen:
"Ziep, ziep, ziep, plitsche, platsch,
Bei Zeisigs ist heut Kaffeeklatsch!"

74. Die Chinesen in Berlin

Es war Winter geworden. Glitzernder Schnee lag wie eine große weiße Bettdecke auf den schlummernden Blumen und Gräsern des Wergartens, die hohen kahlen Bäume standen stumm im kalten Morgenwinde und träumten fröstelnd der fernen Sonne des Frühlings entgegen.
Nun war eine harte Zeit für unsere Spatzenfreunde gekommen, viel Arbeit gab's und wenig Essen, und wer nicht stark und mutig war, der lag eines Morgens tot im Schnee, und die Totenkäfer krochen dann herbei und gruben ihm ein kühles Grab.
Da saßen denn oft die Sperlinge gar mißmutig nebeneinander auf einem langen Aste uns suchten sich die Zeit durch Geschichten zu vertreiben.
Das ging nicht mehr so gut wie im Sommer wo Zeisig, Amsel und Nachtigall von ihren Reisen in den wärmeren Ländern erzählten; die Spatzen kannten nur Klatschgeschichten und die wußte einer so gut wie der andere. Es war recht langweilig. Da knisterte unten der harte Schnee, und zwei sonderbare Gestalten gingen vorüber. Sie trugen lange, gelbseidene Gewänder, weite seidene Pluderhosen und ganz kleine rote Schnabelschuhe. Hu, hatten die aber häßliche Gesichter, ganz gelbe Haut und schmale langgeschlitzte Augen! Und hinten hing ihnen über der Rücken ein langer schwarzer Zopf herab. "Die kommen wohl vom Maskenball ja?" fragte lachend ein ganz junger Sperling.
"Nein, das sind Chinesen, belehrte ihn seine Mutter, und da fällt mir eine Geschichte ein, die mir neulich ein Kakadu im Zoologischen Garten erzählt hat."
Die Sperlinge rückten noch näher zusammen, so daß einer den anderen recht wärmte, und die Spatzenfrau begann:

Ab und zu besuche ich im Zoologischen Garten meinen alten Jugendfreund, den großen schwarzen Pudel. Wie ich nun das letzte Mal bei den Papageien vorbeiflog, hörte ich einen schneeweißen Kakadu ein merkwürdiges Lied singen

"Ach ich Stolzer
Ach ich Netter
Auf dem Holze
An der Kette
Sitze ich gefangen hier.
Ene, mene,
Ming, mang,
Kling, klang,
Sing, sang,
Kakadu!
Unter dummen
Papageien
Muß ich brummen
Muß ich schreien,
Ich ein königliches Tier
Ene, mene,
Ming, mang,
Kling, klang,
Sing, sang,
Kakadu!"

"Warum bist du denn besser als die anderen Kakadu?" rief ich da.
Der Kakadu pustete seine Federn auf, hob seinen Kopf und sah mich verächtlich an. Dann schrie er: "Was ich besser bin als die anderen, dummer Spatz? Ein Kaiser hat mir das Köpfchen einst gekrault, aus goldenen Schüsseln habe ich gegessen und auf des Kaisers Thron geschlafen. Aber das ist eine lange Geschichte."
"Ach bitte erzähle sie mir," sagte ich, "ich höre gerne solche Geschichten." Da setzte ich mich auf einen Fliederstrauch und hörte, was der Kakadu erzählte. --

Viele, viele tausend Meilen von hier liegt ein großes mächtiges Reich, und das heißt China. Das ist ein gar wundersames Land; die Häuser tragen viele kleine Türmchen von Porzellan und an den Türmchen hängen kleine Silberglöckchen, die klingen und singen gar lieblich im Winde.
Die Vögel schillern und glänzen in den herrlichsten Farben, rot sind ihre Köpfe, gelb die Flügel und blau die langen Schweife. Die Menschen aber sind dort entsetzlich häßlich, und wer der häßlichste von allen ist, der wird zum Kaiser gewählt. Darum trinken sie von morgens bis abends Thee und essen Reis, denn sie glauben, daß man dadurch garstig werde. Eines Tages saß der Kaiser in seinem Garten und spielte mit seinem Lieblingskakadu.
Da liefen mit Zeichen des Schreckens seine Räte herbei und warfen sich zu Boden und küßten die Erde und rutschten auf den Knieen bis zum Thron des Kaisers.

"Ach Kaiser, lieber Kaiser," riefen Sie, "uns droht ein schreckliches Unglück!" Und sie wackelten mit ihren Köpfen, hoben die Zeigefinger in die Höhe und schnitten schaurige Gesichter.
"Was giebt es?" fragte der Kaiser erschreckt.
"Ach lieber Herr Kaiser," riefen sie, "von Westen her, vom fernen Europa schreitet eine wundersame Jungfrau über die Erde. Sie ist schlank wie eine Königstanne, ihr blondes, welliges Haar flattert im Winde, und ihre großen blaün Augen blicken hell und warm wie Deine Schwester die Sonne. Ein schneeweißes Silbergewand umhüllt ihre herrlichen Glieder, und ein milder Schein wie vom Mondenlicht umleuchtet ihre weiße, reine Stirn. Wohin sie ihren kleinen Fuß setzt, erwachen die Blüten, öffnen sich die duftenden Knospen, und die Vögel singen ihre schönsten Lieder. über ihrem Haupte aber schwebt ein hellblaür strahlender Stern, und wer diesen Stern erblickt, muß vor ihr niederknieen und sie als seine Königin anbeten."
Als das der Kaiser hörte, sprang er totenblaß von seinem goldenen Sessel, schleuderte den weißen Kakadu hoch in die Lüfte und rief:
"Und wie heißt dies Weib?"
"Die Schönheit!" murmelten die Räte.
"Also," rief der Kaiser und ergriff sein silbernes Schwert, "also befehle ich Euch, um mein ganzes Reich noch heute eine dicke, hohe Maür zu baün, damit die Schönheit nicht hineinkann. Und ist die Maür nicht bis morgen fertig, so schlage ich Euch allen den Kopf ab."
Da rutschten die Räte wehklagend auf ihren Knieen aus dem Garten des Kaisers und riefen alle Männer und Fraün des Reiches herbei, um eine so dicke Maür zu baün, daß die Schönheit nicht ihren Einzug halten könne.
Und als der Kaiser am anderen Morgen erwachte, war die Maür fertig. Da gab der Kaiser seinem Volke ein großes Fest, und alle tranken Thee und aßen Reis, bis sie nicht mehr konnten und freuten sich, weil sie so häßlich waren.

Da geschah es aber, daß der Kaiser einen gar wundersamen Traum hatte.
Er hörte von fernher eine leise, liebliche Melodie, die kam immer näher und näher, und plötzlich war es, als ob tausend Nachtigallen ein jubelndes Freudenlied sangen. Und Düfte von Rosen und Myrrhen drangen jetzt in leisen Zephyrlüften zu ihm, er mußte die Augen öffnen, und da sah er über sich eine helleuchtende Engelsgestalt schweben auf silbernen Schwingen, und über ihrem Haupte glänzte ein hellblaür Stern.
Da überkam es ihn auf einmal gar wunderbar, Thränen traten ihm in die kleinen häßlichen Augen, und schluchzend sank er in die Kniee.
"Ihr Räte," rief er so laut er konnte, "ich habe die Schönheit erblickt, sie ist an mir vorbeigeschwebt, wenn Euch Eür Leben lieb ist, so schafft sie mir noch heute zur Stelle, denn ich will sie heiraten, sie soll Frau Kaiserin werden." Nun schickten die Räte Kuriere im ganzen Lande herum, wer die Schönheit sähe, solle sie anhalten und auf's Schloß bringen, denn der Kaiser wolle sie zu seiner Frau nehmen.

Aber jetzt blieb alles Suchen vergeblich, die Schönheit war vorübergezogen und ließ sich nicht mehr blicken. Da sprach der Kaiser: "So sollt Ihr alle Eür Haar nicht eher schneiden, bis die Schönheit wieder ins Land kommt, und alle meine Räte sollen noch heute in die weite Welt ziehen, um sie zu suchen; wer sie mir aber heimbringt, der darf sich den Zopf abschneiden und wird Kanzler meines Reiches. Der weiße Kakadu soll ihr aber nachfliegen, damit ihre Spur verfolgt werde auf Erden und in Lüften."
So sprach der Kaiser. Da zogen seine Räte in die weite Welt hinaus, und einige kamen auch nach Berlin, und wenn Ihr sie auf der Straße einmal seht, so wißt Ihr, daß sie auszogen, die Schönheit zu suchen.
Der weiße Kakadu aber wurde eingefangen und sitzt jetzt auf der Stange im Zoologischen Garten. Wenn nun die Chinesen bei ihm vorübergehen, ruft er: "Ich bin es ja, Kakadu, kennt Ihr mich denn nicht?"
Aber die Chinesen schütteln dann die Köpfe und schreiten weiter, denn sie suchen ja die Schönheit, und die können sie doch in einem Kakadu nicht entdecken.

Das ist das Märchen von dem Kakadu.

75. Graf Moltke und der Spatzengeneral

"Hört einmal zu", sagte der alte graü Spatzengeneral zu den lauschenden Vögeln auf der Eiche, "jetzt hört einmal zu, was ich Euch von der Schlacht bei der Siegessäule erzählen werde.
Wir Sperlinge auf dem großen Königsplatze verdienten unser täglich Brot für redliche Arbeit in den Gärten der schönen Häuser. Wir reinigten die Bäume und Hecken von dem schädlichen Ungeziefer und erhielten dafür im Winter, wenn Eis und Schnee auf Erden lag, Gerstenkörner und Brosamen, so daß wir recht zufrieden waren.
Da hatten die neidischen Spatzen vom Brandenburger Thor eines Abends einen Kriegsplan ersonnen. Sie wollten uns plötzlich übel überfallen, uns verjagen und dann unseren Verdienst auffressen. Eine alte Krähle aber, die diese Verschwörung belauscht hatte, verriet sie mir heimlich und sogleich flog ich aufs Haus des großen Generals Moltke, setzte mich auf die Fahnenstange und schrie so laut ich konnte in die Lüfte:

"Herbei, herbei Ihr Spatzen
Jetzt giebt es was zu kratzen
Zu stechen und zu beißen
Und lust'ges Federnreißen.
Nun schleift die spitzen Schnäbel
Und brauchet sie als Säbel
Di piek, di piek, di piek,
Denn morgen giebt es Krieg."

Da kamen sie schreiend herbei von allen Seiten, die kampflustigen Spatzen und wetzten ihre Schnäbel und schlugen mit den Flügeln, daß es nur so eine Lust war. Sechs Finken aber bildeten die Schlachtmusik und pfiffen die Wacht am Rhein. Ich wurde zum General ernannt, und dazu hatte ich ein gutes Recht, denn ich war Haus- und Gartenspatz vom alten Moltke. "Soldaten!" rief ich, "wir werden siegen. Das Kriegführen verstehe ich aus dem eff eff. Wir verstecken uns alle in den Kanonen der Siegessäule, die Finkenmusikanten bleiben stets hinter der Schlachtreihe, und morgen wenn die Thor-Spatzen uns plötzlich überfallen wollen, rufe ich "Vorwärts piep!" und wir fallen über die überraschten her, halten uns aber stets dicht zusammen und rennen im Haufen bald rechts bald links und stechen und rupfen, daß es nur so eine Art hat."

Und so kam es auch. Wie die Maikäfer flohen die frechen Feinde in toller Angst, und in einer halben Stunde waren wir Herren des Schlachtfeldes. Ich allein hahe hundert Federn ausgerissen und zehn ganze Schwänze.
Aber nun kam der Lohn für unsere Tapferkeit. Von seinem Fenster hatte der alte Moltke den ganzen Kampf mit dem Operngucker verfolgt, und jetzt klatschte er in die Hände und rief "Bravo" und lachte über das ganze Gesicht und zerpflückte eine große Schrippe in hundert kleine Stücke und warf sie eigenhändig vom Fenster herunter.

Da hättet ihr aber sehen sollen, wie er sich gefreut hat, als ich jetzt "Achtung" kommandierte, und wir alle die Pfote an den Kopf legten rund riefen: "Hoch lebe der General Moltke piep, piep, piep!" Und da hat er wieder gegrüßt, und wenn er nicht gerade gerufen worden wäre, könnt Ihr sicher seine ich, hätte gewiß einen Orden bekommen."

"Na, der Orden wäre doch nur für die Katze gewesen, wie der flügellahme General Spatz," meinte ein frecher Witzbold von Distelfink, bekam aber dafür von seiner Mutter eine tüchtige Ohrfeige. Da kam plötzlich ein Eichkätzchen angesprungen, und schreiend stoben die Vögel auseinander, allen voran aber der mutige alte Spatzengeneral.

76. Der Weihnachtsmarkt

Heißa! wie die Flocken fliegen
Um die hellen Gaslaternen,
Heute ist es ein Vergnügen
Aus dem Haus sich zu entfernen.
Seht die Menge
Im Gedränge
Vor den schönen Läden stehen,
Um das kleine,
Neue, feine
Weihnachtsspielzeug zu besehen.
Dann geht's heiter
Plaudernd weiter
Nach dem großen Weihnachtsmarkt,
Und die Püffe
Und die Knüffe
Werden Keinem heut verargt.
Welch ein Trommeln und Trompeten,
Dudeln, Fideln, Rasseln, Flöten,
Knarren, schnarren, brummen, schreien,
In den langen Budenreihen!
Hier giebts Schiffe voller Masten,
Dorten große Leierkasten,
Arche Noah's, Pferdeställe,
Puppenküchen, Gummibälle;
Und die roten Blasen da
Schreien laut Papa, Mama!
Doch da steht der bill'ge Mann,
Der so schön verkaufen kann!
"Nur heran ihr lieben Leute,
Immer billig, billig heute,
Für nur wenig Nickelgeld
Kauft man hier die halbe Welt!
Diese Schachtel Zinnsoldaten
kostet - nein, Ihr sollte es raten,
Röcke blau und Hosen weiß
Fünfzehn Pfennig ist der Preis.
Sagt es mir, ist das ein Lohn
Für ein ganzes Bataillon?
Ferner sollt Ihr mir mal suchen
Einen solchen Pfefferkuchen
Für 'ne ganze halbe Mark!
Nein, das find ich selber stark.
Heute ist der letzte Tag,
Morgen liegt er schon im Sack,
Nur heran ihr lieben Leute,
Immer billig, billig heute."

Also ruft der bill'ge Mann,
Der so schön verkaufen kann.
Dort auf langen
Bunten Stangen
Seht die Hampelmänner hangen,
Schneider, Schuster, Schornsteinfeger,
Menschenfresser, schwarze Neger,
Allesamt an einem Strick,
Mit 'ner Strippe im Genick.
Rührt ein Windstoß an den einen,
Stoßen sie sich mit den Beinen,
Und es gieht dann eins, zwei, drei,
Gleich 'ne große Prügelei,
Und aus ihren vollen Lungen
Schreien dann die Straßenjungen,
Pfeifen, johlen, quieschen, schnarren,
Ohne Rast und ohne Ruh,
Und mit Waldteufeln und Knarren
Machen sie Musik dazu. -

Abseits von dem Lärmen und tobenden Treiben saß ein kleiner Knabe auf einer Steintreppe und verkaufte Schäfchen. Es war ein gar wunderlieblicher Bursche mit großen blauen Augen und einem kirschroten Mündchen. Der kleine Knabe hatte das Ärmchen um den Hals eines weißen Pudels gelegt, der neben ihm saß, und da ihn gar so jammervoll fror, streckte er ab und zu, wenn gerade Niemand hinsah, das ganze Gesichtchen in das warme Pudelfell.

"Ein' Dreier das Schäfchen, ein' Dreier das Schäfchen!" rief er unaufhörlich mit bittender Stimme. Aber es fand sich heute Niemand, der ihm etwas abkaufen wollte, die Menschen, die vorbei gingen, suchten schönere Spielsachen, als solch ein armseliges Schäfchen aus weißer Watte und Holz, und Keiner hatte einen mitleidigen Blick für den kleinen frierenden Knaben mit dem Pudel. Ja der Pudel! Das war kein gewöhnlicher Pudel, wie ihr wohl glaubt. Wer ein guter Mensch war und die Tiere lieb hatte, der konnte ganz deutlich verstehen, was der Pudel bellte. Der kleine Knabe aber war ein guter Mensch und hatte nie ein Tier gequält, und darum verstand er auch, als der Pudel jetzt knurrte:
"Geh nach Haus, Fritzchen, Du hustest gar bös, Du wirst das arge Fieber bekommen, wenn Du hier länger in der Kälte hockst.«

"Ach Pudelchen,« sagte da das Fritzchen, "oben im Dachkämmerchen ist's ja eben so kalt wie hier, da pfeift der Wind durch die zerbrochenen Fenster, und wir sind so ganz allein. Heut ist ja Weihnachten, denke doch Pudelchen.«

Und dann steckte Fritzchen wieder das Gesicht in das Fell des Pudels und weinte heimlich bittere Thränen. Er dachte der Zeit, da sein Vater und seine Mutter noch lebten, er dachte des kleinen Weihnachtsbäumchens, das er stets gehabt hatte, und der Pfefferkuchen und der goldenen Aepfel daran. Jetzt wohnte er bei fremden Leuten und mußte im Frühling Veilchen verkaufen und im Sommer Rosen. Wenn es aber Herbst wurde, dann mußte er Schäfchen leimen, damit er für den Weihnachtsmarkt einen ordentlichen Vorrat hatte.
Ach, es ist gar traurig, von dem Mitleid anderer Menschen zu leben, am traurigsten aber, wenn man dabei krank ist, wie es Fritzchen war. Denn auf der kalten Steintreppe hatte er sich einen schlimmen Husten geholt, und doch wagte er nicht nach Hause zu gehen, da er heute nichts verkauft hatte.
Wie er so still weinend dasaß, sah er nicht, daß ein feiner, fremder Herr schon lange vor ihm stand und ihn mit freundlichen Blicken betrachtete. Jetzt zog der Fremde einen blanken Thaler aus der Tasche und ließ ihn in das Kästchen mit den Schäfchen gleiten.
"Danke, danke!« bellte der Pudel. Der Herr sah sich verwundert um, glaubte aber, der kleine Knabe habe das gerufen und schritt dann leise lächelnd weiter.
Als Fritzchen den Thaler sah, klatschte er vor Freude laut in die Hände. "Ach Pudelchen,!« rief er, "nun können wir getrost nach Hause gehen in unser Kämmerchen und brauchen nicht länger hier zu frieren im kalten Schnee.«
Und die beiden gingen nebeneinander durch die Straßen, wo in den hell erleuchteten Schaufenstern das herrlichste Spielzeug und die süßesten Zuckersachen und die wärmsten Mäntelchen und Mützchen lagen, bis nach einem schmalen dunklen Gäßchen. Dort stiegen sie in einem alten elenden Hause vier holprige Treppen hinauf und klopften an die Thür. Ein altes häßliches Weib machte ihnen auf, nahm dem Knaben gierig den Thaler aus der Hand und ließ ihn dann in seine Kammer hinein. "Schau, schau! Hat das Bürschchen einen Thaler gestohlenen?« lachte das Weib ihnen nach und ließ das Silber am Herdfeuer recht glänzen, "wenn es sich nur nicht fassen läßt, das Jüngelchen.« Der kleine Knabe hatte die schlechten Worte gehört und preßte mit Thränen in den Augen die heiße Stirn gegen das kalte Fensterchen.
Der Pudel saß neben ihm, und so blickten die Beiden stumm in die Nacht hinaus über den großen Platz am Ende der Gasse. Da sahen sie, wie in einem Hause nach dem anderen Weihnachtsbäume angesteckt wurden, und bald strahlte die ganze dunkle Häuserreihe in mildem Kerzenglanz. Ab und zu konnten sie Kinder mit fröhlichen Gesichtern hinter den Scheiben vorbeihuschen sehen, und manchmal drangen deutlich gedämpfte Stimmen herüber.
Plötzlich sank der kleine Knabe in die Knie und griff mit beiden Händchen nach dem Herzen. Eine glühende Hitze war ihm in das Köpfchen gestiegen, und mit einem leisen Seufzer brach er zusammen Da leckte ihm der Pudel das Gesicht und winselte; "0 Gott, o Gott, jetzt hat er sich das Fieber im Schnee geholt und muß vielleicht sterben.« Als das Fritzchen wieder zu sich kam, zitterte es am ganzen Körper und schlich weinend nach seinem Bettchen. Da bellte der Pudel: "Laß mich laufen und den Doktor holen, Fritzchen, und bleibe ganz ruhig, bis ich wiederkomme.«

Damit lief er zur Thür hinaus. Unten auf der Straße stand ein Jagdhund; wie der den Pudel ankommen sah, dachte er, ih, da ließe sich eine nette Weihnachtsbekanntschaft machen, legte die Ohren zurück und kauerte sich auf allen Vieren nieder. Der Pudel aber lief in weitem Bogen um ihn herum und machte, als ob er ihn gar nicht bemerkte. Endlich hielt er bei einem Hause still, wo ein Doktor wohnte und zog an der Glocke. Ein großer schwarzer Mann öffnete das Fensterchen und rief hinaus:
"Wer läutet hier An meiner Thür?«
Da bellte der Pudel:
"Ein Pudeltier, ein Pudeltier!«
"Willst Du machen, daß Du fortkommst!« rief der Doktor und griff nach seinem Stock. Ach, er konnte ja nicht verstehen, was der Pudel wollte, er war kein guter Mensch und hatte als Student so sehr viel Tiere gequält, und darum hörte er nichts von der langen, traurigen Erzählung des Pudels als: Wau, wau, wau!
Nun lief der Pudel weiter zum nächsten Doktor. Bei dem wär's ihm beinahe noch schlimmer ergangen, denn die Köchin kam schon mit dem langen Besen herbei.
So lief der arme, geängstigte Hund von Einem zum Anderen, aber überall ward er mit Hohn weggejagt, denn Keiner war ein so guter Mensch, daß er ihn verstehen konnte.
Schon war er todmüde vor dem Thore angekommen und stand nun in der großen Tiergartenstraße.
Plötzlich schnüffelte er aufmerksam im Schnee, dann bellte er laut und lief, immer mit der Nase in einer Fährte spürend, so schnell ihn seine Füße tragen wollten. Vor einer großen, prächtigen Villa machte er Halt, blickte nach den kerzenstrahlenden hohen Spiegelscheiben hinauf, faßte sich dann ein Herz und lief durch den kleinen Vorgarten in's Haus hinein. Auf einer Strohmatte wischte er sich fein säuberlich die Pfoten ab, leckte sich den Bart und schritt dann die weiße Marmortreppe hinauf. Oben klingelte er.
Ein alter Diener machte ihm auf und lachte, daß er sich die Seiten halten mußte, als er den Pudel so demütig mit dem Schwanz wedeln sah. Dann rief er seinen Herrn und die jungen Fräuleins herbei. Der Pudel stellte sich auf die Hinterbeine und machte seinen schönsten Diener, so daß die Kinder vor Vergnügen in die Hände klatschten. Der Herr aber sah ihn genauer an und rief "Kinder, das ist der Pudel, der heut' mit dem kleinen Jungen auf der Steintreppe saß, von dem ich Euch eben erzählte.«
Nun sagte der Pudel: "Ach lieber Herr, ich weiß, daß Sie ein großer Doktor sind, kommen Sie zu meinem kranken Fritzchen. Ich war schon in der ganzen Stadt, aber Niemand hat meine Bitte verstanden, thun Sie's nun auch nicht, so muß mein Fritzchen sterben.«
Da sprach der Doktor: "Nein Pudelchecn ich verstehe Dich, komm', wir wollen gleich zu Deinem Fritzchen gehen.«
Und er zog sich seinen großen Pelz an, setzte sich seine Pelzmütze auf und schritt mit dem Pudel, der freudig bellend an ihm emporsprang, aus seiner warmen prächtigen Wohnung in die kalte Weihnachtsnacht hinaus. Draußen lag der Schnee schwer auf den kahlen Bäumen des Tiergartens und der Mond goß sein mildes Silberlicht darüber aus.
An der Ecke stand ein schöner Schlitten, in den sprang der Doktor hinein und rief: "Nun Pudel zeige den Weg!« Das ließ sich der Pudel nicht zweimal sagen, lief vor die stampfenden Pferde und eilte in großen Sprüngen dem Schlitten voraus, der auf der glatten weißen Schneedecke wie die Windsbraut schellenklingend einhersauste.
Bald waren Sie in der Stadt angelangt und jagten nun durch die hellen Straßen, wo fröhliche Menschen mit Geschenken unterm Arm geheimnisvoll lächelnd vorübergingen, nach dem Häuschen des armen Knaben, der fröstelnd auf seinem harten Lager lag.

Thränen der Dankbarkeit traten Fritzchen in seine großen Augen, als sich die weiche warme Hand des Doktors auf seine Stirn legte, und dieser sagte:
"Hast Dich krank gefroren, armes Kind! Wirst aber wieder gesund und fröhlich werden, wenn Du hübsch fein die Pillen nimmst, die der Pudel nachher aus der Apotheke holen soll, und artig im Bettchen bleibst, bis ich wieder komme. Und wenn Du dann wieder ganz gesund bist, verspreche ich Dir auch ein blaues Röckchen mit goldenen Knöpfchen und rote Höschen mit roten Strümpfchen, und weißt Du auch, was Du damit sollst? Damit sollst Du der kleine Diener meiner Kinder werden.«

So sprach der Doktor. Da heulte der Pudel vor Rührung, daß er sich mit dem Bettlaken die Augen wischen mußte, der kleine Knabe aber faltete die Händchen und flüsterte: "Ach, wenn das mein totes Mütterchen hören könnte.« Der Doktor sagte nun schnell "Adieu«, und bald hörten sie die Peitsche knallen und die Schlittenschellen klingeln, ferner, immer ferner, bis sie ganz verklangen. -
Als der Pudel die Medizin in einem Körbchen geholt hatte und die Beiden wieder still bei einander saßen, klopfte es plötzlich an der Thür
"Wer ist da?« bellte der Pudel.
"Mach' nur auf!« antwortete eine feine glockenhelle Stimme. Da richtete sich der kleine Knabe im Bettchen auf und rief: "Mach' auf, Pudelchen, mach auf!« Im selben Augenblick öffnete sich wie von selbst die Thür, und ein kleines Mädchen schwebte wie auf unsichtbaren Schwingen herein. Sie hatte langes schwarzes Lockenhaar, das wallte weich und glänzend über ihre schneeweißen runden Schultern, und ein paar herzensgute rehbraune Augen blickten lächelnd auf den kleinen kranken Knaben.
"Fritzchen,« sagte sie und streichelte seine blonden Haare, "alle Kinder sind heute fröhlich und gesund am heiligen Weihnachtsabend, und freuen sich ihrer Geschenke und des Christbäumchens und küssen ihre Eltern und Geschwister. Du allein bist krank und verlassen, darum bin ich zu Dir gekommen, um Dir etwas Schöneres zu schenken als das schönste Spielzeug der Welt.«
Damit nahm sie seinen Kopf in ihre beiden Hände und hauchte einen warmen Kuß auf seine fiebernde Stirn. "Wie heißt Du, herrliches kleines Mädchen?« fragte der Knabe mit seligem Lächeln, wie von einem sanften Traum umfangen. "Die Phantasie«, flüsterte die Kleine.
Da schloß er langsam die großen Augen, und nun ging eine wunderbare Verwandlung mit ihm vor.
Er sah plötzlich, wie das kleine Mädchen eine königliche, lichtstrahlende Frauengestalt wurde, und wie der Pudel sich als weißer Silberlöwe zu ihren Füßen niederlegte. Der kleine trockene Fuchsiatopf auf dem Fensterbrett breitete sich auf einmal wie ein glänzender mächtiger Weihnachtsbaum aus, die engen Wände des Zimmerchens wichen zurück, und das ganze kalte ärmliche Kämmerchen verwandelte sich langsam in den goldenen Saal eines prachtvollen Märchenschlosses.

Die Phantasie aber hob die kleine weiße Hand und sprach:
"Weihnachtsmarkt erscheine!«

77. Des armen Knaben Weihnachtstraum

(Fortsetzung des vorigen Märchens)

Kaum hatte die Phantasie ihr Zauberwort gesprochen, so flogen die goldenen Flügelthüren auf, und zwei Regimenter Zinnsoldaten marschierten in den Saal hinein. Vorauf schritt eine richtige kleine Militär-Kapelle, die spielte gar lustige Soldatenweisen.

"Halt! Präsentiert das Gewehr!" rief der kleine Zinn-General, und Alle präsentierten ihre Gewehre vor dem staunenden Fritzchen.

Dann marschierten sie weiter und stellten sich unter dem Weihnachtsbaum in Reihen auf.

Gleich darauf raßelte eine ganze Batterie Meßingkanonen herein, und endlich kam auf Pferden und Wagen eine lange Kolonne heran, die Zelte und Stangen zu einem kleinen Lager brachte. Den Schluß aber bildeten mit schmetternder Trompetenmusik zwei ganze Schwadronen Ulanen und Küraßiere.

Nun entstand ein buntes Treiben unter dem Soldatenvolk, Zelte wurden aufgeschlagen, Feuerchen angemacht und kleine Zinnkeßel darüber gehängt. Dann hieß es "Rührt Euch!", die Musik spielte einen lustigen Walzer, und alle Soldaten tanzten mit den kleinen Marketenderinnen.

Jedoch drei sonderbare Gäste, die jetzt zur Saalthür hereinkamen, machten die Musik verstummen.

Der Erste war ein Gummiball, der sprang mit einem Satz über den Weihnachtsbaum auf den Ofen und hüpfte dann vergnügt im Saal umher.

Der Zweite war ein Waldteufel, der kam in den Saal gerollt, richtete sich in der Mitte auf seinem Holzstiel auf und schnurrte um sich selbst herum, daß es einen Heldenlärm gab.

Der dritte Gast aber war ein Hampelmann, ein richtiger Schornsteinfeger von Pappe, der schien sich mit dem Waldteufel zu zanken, denn er fuchtelte mit Armen und Beinen wie toll in der Luft umher.

Aber die drei Skandalmacher mußten plötzlich schnell bei Seite springen, denn es pfiff draußen, und gleich darauf fuhr eine lange Eisenbahn von Blech herein, hinterher kam die Feuerwehrangeklingelt, und zuletzt ritten zwei kleine hölzerne Schutzleute.

Nun erschienen auch ein Pfefferkuchenherr und ein Pfefferkuchenfräulein und fingen an einander aufzüßen.

Nach ihnen rollte eine Menagerie herein mit Löwen, Tigern, Elefanten und Affen, und ein rabenschwarzer Mohr schlug dazu die Keßelpauke und rief unaufhörlich: "Nur herein, meine Herrschaften, nur herein, die Vorstellung wird gleich losgehen!"

Jetzt entwickelte sich ein Höllenspektakel. Die Soldaten schoßen mit ihren Kanonen auf den Waldteufel, der Gummiball neckte den Hampelmann, die Ulanen stachen mit ihren Lanzen in die Menagerie hinein, so daß die Löwen brüllten und die Tiger heulten und die Affen quietschten, die Feuerwehr fuhr in die Eisenbahn, und zwischen durch galoppierten fluchend die beiden Schutzleute mit gezogenen Säbeln und ritten dabei den Pfefferkuchenmann und das Pfefferkuchenfräulein über den Haufen.

Da ertönten plötzlich drei Trompetenstöße und auf einem glänzenden, goldgezäumten Schimmel trabte ein Herold zur Thür herein. "Platz!" rief er mit mächtiger Stimme, "es kommt Seine Majestät der König!".

Sofort verstummten die Kanonen, die Soldaten stellten sich in Reih' und Glied, der Waldteufel legte sich lang auf die Erde, der Gummiball rollte in eine Ecke, der Hampelmann hing sich an den Weihnachtsbaum und schlug die Beine übereinander, das Pfefferkuchenpaar aß sich schnell bis zu Ende auf, und die Schutzleute säuberten den ganzen Platz. Nur in der Menagerie grollte der Löwe noch leise wie ferner Donner.

Wieder ertönte eine Trompetenfanfare, und nun fuhr eine kleine silberne Kutsche mit zwölf feurigen Rappen bespannt in den Saal. Dann folgte eine Reihe glänzender Reiter auf prächtigen Schimmeln und zuletzt zwei Kutschen mit bildschönen Puppendamen.

Die Diener sprangen jetzt vom Bock und öffneten die Thüren. Da stieg der König mit seiner wunderschönen Königstochter aus und setzte sich auf den goldenen Thron. Um ihn herum stellten sich die Ritter und Edelfräulein und vor den Thron trat der Herold, führte ein Horn an die Lippen und blies dreimal hinein.

Dann las er mit lauter Stimme aus einer Papierrolle:
"Ihr Männer alle hört mich an
Ob Ritter oder Bürgersmann,
Und paßt gut auf, damit Ihr wißt,
Was meines Königs Wille ist.
An dieses Thrones Stufen steht,
Die schönste Jungfrau, wie Ihr seht,
Ihr Auge strahlt wie Diamant
Ihr Kuß ist süß wie Zuckerkant,
Ihr Lächeln wie der Frühling hold,
Ihr Haar so klar wie Sonnengold,
Sie ist die Schönste weit und breit:
Ein Bild von Mädchenherrlichkeit.
Um dieses Königstöchterlein
Dürft Ihr nun alle heute frei'n,
Darum herbei jetzt Mann für Mann,
Es zeige jeder, was er kann.
Und wer der Beste ist im Land,
Erhält noch heute ihre Hand,
Und wird des Königs Schwiegersohn
Und erbt dereinst den Königsthron!"

Da entstand ein Gemurmel unter allen Anwesenden, und zu allgemeinem Gelächter hüpfte der Gummiball aus seiner Ecke hervor, sprang zehnmal vor der Prinzeßin auf und nieder und sprach:
"Allerschönstes Königskind
Hupf, hupf, hupf,
Höre, was ich will, geschwind.
Hupf, hupf, hupf!
Keiner ist so rund und drall
Wie ein richt'ger Gummiball.
Hupf, hupf, hupf.
Ohne Rast und ohne Ruh'
Hupf, hupf, hupf,
Spring und hupf ich immerzu,
Hupf, hupf, hupf,
Bis auf's Dach in einem Stück
Und auf selbem Weg zurück.
Hupf, hupf, hupf."

Da rief lachend das Königskind:
"Gummiball
Rund und drall,
Hupf hinaus
Aus dem Haus,
Bringst mich nur zum Lachen.
Denn wer nichts als hüpfen kann,
Ist für mich kein Ehemann,
Da ist nichts zu machen!"

Der Gummiball, als er diese Worte hörte, sprang bis an die Decke vor Schreck und fiel dann die Treppe hinunter. Der Herold aber erhob seinen Elfenbeinstab und winkte dem zweiten Freier.

Der kam mit Trommelwirbel und Kanonendonner gravitätisch heranmarschiert und machte eine sehr vornehme Verbeugung. Es war der kleine Zinngeneral. Langsam strich er sich seinen langen schwarzen Schnurrbart und schnarrte:
"Donnerwetter, Schwerenot,
Ritter- oder Baürntot!
Furio! Gift ins Brot!
Wer gilt mehr in diesem Saal
Als ein alter General?
Bum, bum, bum!
Wer kann beßer kommandieren,
Schießen, reiten und marschieren?
Sagt es mir, wenn ihr ihn kennt!
Spreche ich ein einzig Wort,
Pflanzt es sich wie Donner fort,
Und es bebt ein Regiment!
Himmelmohrenelement!!
Bum, bum, bum."

Da rief kopfschüttelnd das Königskind:
"General,
Aus dem Saal
Kommandier'
Und märschier!
Bringst mich nur zum Lachen;
Denn wer nichts als fluchen kann
Ist für mich kein Ehemann,
Da ist nichts zu machen."

Der General machte wieder eine vornehme Verbeugung, kommandierte "Vorwärts marsch!" und marschierte an der Spitze seiner Truppen stolz zum Saal hinaus.

Der Herold aber erhob seinen Elfenbeinstab und winkte dem dritten Freier.

Das war der Waldteufel. Schnell richtete er sich auf seinem Holzstiel auf und schnurrte:
"Brum brum brum, brum brum brum,
Immer rund im Kreis herum!
Bin zwar nur aus Papp' und Holz,
G'rade darauf bin ich stolz.
Nicht die Biene, nicht die Brummel,
Nicht die schönste Kalbfelltrommel,
Nicht die größte Blechtrompete,
Nicht die Fiedel, nicht die Flöte,
Drehen sich im Kreis herum,
So wie ich mit brum, brum, brum!"

Da rief unwillig das Königskind:
"Alter, dummer
Brimbrambrummer,
Roll' hinaus
Aus dem Haus,
Bringst mich nur zum Lachen.
Denn wer nichts als Brummen kann
ist für mich kein Ehemann,
Da ist nichts zu machen."
Der Waldteufel brummte noch einmal ganz wehmütig, dann rollte er sich betrübt zusammen, setzte sich in die Eisenbahn und fuhr davon.

Der Herold aber erhob seinen Elfenbeinstab und winkte dem vierten Freier.

Das war der Hampelmann. Er knüpfte sich an einen Tannenzweig, putzte sich die Nase und begann zu zappeln:
"Zippel zapp,
Zippel, zapp,
Arme auf und Arme ab.
Immer lustig, immer munter,
Beine rauf und Beine runter,
So in einem Zippel zapp,
Zapple ich mein Dasein ab,
Darum nennt mir einen Mann,
Der wie ich wohl zappeln kann.
Zapple, bis die Pappe kracht
und die Strippe Knoten macht.
Von der Wiege bis zum Grab
Mach' ich nichts als Zippel-Zapp!"

Da sprach die Königstochter:
"Hampelmatz, Bist ein Schatz
Für die Katz!
Bringst mich nur zum Lachen;
Denn wer nichts als zappeln kann,
Ist für mich kein Ehemann,
Da ist nichts zu machen."

Der Hampelmann knüpfte sich traurig von dem Tannenzweige los und zappelte zum Saal hinaus, hinterdrein fuhr die Feuerwehr, damit ihm bei den brennenden Kerzen auf der Treppe kein Unglück paßierte.

Der Herold aber erhob seinen Elfenbeinstab und winkte dem fünften Freier. Das war der Mohr aus der Menagerie. Er warf sich auf die Knie, kreuzte die Arme über der Brust und begann:
"Bin zwar nur ein schwarzer Mohr, Doch ich kann ja nichts davor !- " Aber weiter konnte er nicht sprechen, denn die beiden Schutzleute kamen angeritten und arretierten ihn auf der Stelle, denn er hatte die Menagerie ganz allein ohne Aufsicht gelaßen, und da hatte der Löwe inzwischen alle Tiere aufgefreßen und zuletzt sich selbst.

Da erhob der Herold abermals seinen Elfenbeinstab und rief nach dem sechsten Freier. Aber als er sich umsah, bemerkte er, daß Niemand mehr da sei. Die Königstochter jedoch blickte plötzlich erstaunt auf das träumende Fritzchen und rief erfreut:"Das ist der Rechte, das ist der Rechte, Goldlöckchen und Blauäugelein. Der muß mein liebster Bräutigam sein."

Fritzchen blickte ganz beschämt zu Boden, dann flüsterte er seufzend: "Ach Königskind, ich habe gar keine Gaben, Ich kann nichts, als Dich recht, recht liebhaben!". Da sprang die Königstochter von ihrem goldenen Seßel und rief: "Herzallerliebstes Blauäugelein, wir wollen die glücklichsten Brautleute sein."

Der Herold aber erhob seinen Elfenbeinstab und berührte Fritzchens Hand.- Ach, das hätte er nicht thun sollen, denn plötzlich war alle Verzauberung verschwunden, und Fritzchen erwachte. Der Pudel saß an seinem ärmlichen Bettchen und hatte ihn mit der kalten Nase gestupst, und als Fritzchen ihn verwundert nach der Märchenprinzeßin fragte, behauptete er kopfschüttelnd, nichts gesehen zu haben.

Aber ehe er dem Pudel seinen wundersamen Traum erzählen konnte, klopfte es an die Thür, und der gute Doktor trat herein. Er trug einen Korb am Arm, in den hatten des Doktors Töchterlein Pfefferkuchen und Aepfel, einen Hampelmann, einen Gummiball und einen Waldteufel hineingelegt.

Als Fritzchen diese letzten Drei erblickte, lachte er sonderbar, denn er erkannte ganz deutlich in ihnen die drei Freier der Prinzeßin wieder.

Nun begann er dem Doktor von den merkwürdigen Erscheinungen der letzten Nacht zu erzählen. Der hörte gar aufmerksam zu und blickte gerührt in die strahlenden Augen des kleinen Knaben.

Dann sagte er leise: "Weißt Du, was Du bist, Fritzchen? Ein ganzer kleiner Dichter bist du ja. Und nun hör' einmal zu. Nicht weit von hier, in einem kleinen Dörfchen im Walde, wohnt ein alter braver Lehrer, der hat auch mich einst erzogen. Fritzchen sag' einmal, möchtest Du auch zu ihm, bis Du groß bist, in die Schule gehen?

Den Pudel nimmst Du mit hinaus, und alle Jahre in den heißen Sommertagen komme ich dann Dich zu besuchen. Und wenn Du mir dann immer so hübsche Geschichten erzählst, wie heute die von der Märchenprinzeßin und dem Hampelmann, bekommst Du, wenn Du groß bist und ein guter Mensch geworden, mein Töchterchen zur Fraul"

Da gab es einen Jubel, wie ihn die kleine Dachkammer noch nicht erlebt hatte, und der Pudel wurde wieder so gerührt, daß er sich mit beiden Pfoten die Thränen aus den Augen wischen mußte.

78. Das Märchen vom Weingeist

Drei lustige Studenten saßen einmal im Ratskeller beim Wein; zwei alte und ein blutjunger. Als nun die Mitternachtßtunde heranrückte, sagte der Eine: "Jetzt wollen wir uns Gespenster- oder Geisterhistörchen erzählen, damit's Einem nachher recht gruselig träumt!"

"Ach was Geister!" rief lachend der junge Student, "ich glaube an keinen Geist mehr, das sind Kindergeschichten!"

"Du glaubst an keinen Geist" erwiderte da ernsthaft der alte Student, "du kennst nur keinen, Gelbschnabel. Ich weiß einen, das ist der Weingeist, und der haust gerade hier im Keller."